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Land der Vergessenen
 

1. Teil
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Liebe Urgrossmutter, meine Mutter, Hannele hat von dir und Neurode erzählt. Sie war als Kind oft bei Euch in den Ferien. Sie hat erzählt, dass du die vierte Frau meines Urgrossvaters Joseph warst. Im Kindsbett seien die Frauen vor dir gestorben. Die Mutter meiner Grossmutter Anna seine erste Ehefrau.
 
Ich kenne deinen Vornamen noch nicht - ich werde mich auf die Suche machen. Ich weiss, dass dein Mann, mein Urgrossvater Joseph heisst. Das habe ich in einem archivierten Adressbuch von Neurode dem heutigen Nowa Ruda herausgefunden. Ehefrauen werden nicht genannt. Die Kirchenbücher der katholischen Pfarrei werde ich hoffentlich bald einsehen können.
 
Liebe Urgrossmutter,  mein ältester Bruder, der Michael, wurde wie auch du dem Familienvergessen preisgegeben. Er ist sehr früh mit vier Monaten gestorben. Hanna, deine Enkeltochter und Norbert, ihr Mann, haben dem kleinen Michael kein Grab gegeben. Sie wollten ihn so schnell wie möglich vergessen. Mit ihm habe ich vor ein paar Monaten Kontakt aufgenommen. Ich habe Michael meine Leidensgeschichte erzählt. Wir sind in einen regen Austausch gekommen. Er kennt sich mit der Gewalt des Vergessenwerdens aus.
 
Nun habe ich die Spur zu dir aufgenommen und hoffe sehr,  auch mit dir in Verbindung treten zu können. Auf einem digitalisierten Foto könntest du mit dem  Urgrossvater Joseph abgelichtet sein. Beide seid ihr im mittleren Alter. Mit meiner Ehefrau habe ich eurer Haus in Neurode vor bald zwanzig Jahren besucht. Auf den Spuren meiner Vorfahren zu meinen Wurzeln wollte ich mich führen lassen. Das ist mir nicht gelungen. So schade, wie fokussiert ich war, irgendwelche Vorführheldengeschichten zu entdecken. Ich war auf der Suche nach geschichtsträchtigen Ahnen. Dir habe ich keinen einzigen Gedanken gewidmet. Irgendwo in eurer Nähe habe ich den Grabstein eines Rittmeisters aus dem 18. Jahrhundert entdeckt. Das war die einzige Trophäe, die ich mit nach Hause nehmen konnte.
 
Der Krieg und die Vertreibung haben die meisten Erinnungsspuren meiner Herkunftsfamilien in Niederschlesien verwischt. Von euch, den Urgrosseltern in Neurode weiss ich nur aus Erzählungen meiner Mutter Hanna, die du sicherlich als kleines Mädchen gekannt haben musst. Mein Vater hat nie von seinen Grosseltern gesprochen. Vielleicht hat er sie nie gekannt oder sie waren schon gestorben. Wie auch meine beiden Grossväter. Beide lebten nicht mehr, als ich geboren wurde. Über den Paul, deinem Schwiegersohn hat Hanna auch nicht viel erzählt, doch sie muss ihn als Kind sehr gern gehabt haben. Er arbeitete als Bäcker und Konditor in Waldenburg. Mit der Hanna trat er bei Abendveranstaltungen manchmal  als „Pat und Patterchen“ auf. Auf Fotographien trägt er den beliebten Hitlerschnauz. Die Vertreibung nach Braunschweig soll ihn gebrochen haben. Mit  Anna, deiner Stieftochter habe ich in Wenden, einem Vorort von Braunschweig das Grab von Paul zigmal besucht. Die Oma hat die Blumen gegossen und ums Grab geharkt. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie etwas von ihm erzählte. Es gab noch ein anderes Grab auf dem Friedhof in Wenden. Eines ohne Grabstein. Da war die Tante Liesel begraben, die Schwester von Paul. Warum die Liesel bei ihrer Vertreibung aus Waldenburg  beim Paul und seiner Familie war, weiss ich nicht. Sie wohnte dann mit ihnen ein paar Jahre in den zwei kleinen Zimmern, die ihnen in Braunschweig zugeteilt waren. Vom anderen Paul, dem Vater meines Vaters Norbert, weiss ich fast gar nichts. Nur die Hanna wusste Bruchstücke vom ihm zu erzählen. Von den Eltern und der Familie von Paul hat meine Mutter nie etwas erzählt. Mein Vater hat mit mir nie über seine Vergangenheit in Schlesien erzählt.
 
Liebe Ida, mit Erschrecken habe ich vor ein paar Wochen - ja, länger ist es noch nicht her - in meinem Erinnern gemerkt, dass die Hanna nichts, rein gar nichts erzählt hat, wie du in Neurode das Kriegsende erlebt hast, ob du die Vertreibung überlebt hast, wo und wann du gestoben bist und wie es deinem Mann erging.  Mit dem Kriegsende fängt das grosse Vergessen an.
 
Martha, eure jüngere Tochter hat mit ihrem Mann bei euch im Haus gewohnt. Ich habe sie als Tante Martel gut gekannt. Nach dem Tod von Paul zog sie zur Anna nach Wenden in die kleine Wohnung. Als Kind war ich bei den beiden oft zu Besuch. Von euch habe ich nichts mehr gehört. Fragen, was mit euch nach dem Krieg passiert ist, habe ich als Kind wohl nie gestellt. Und jetzt sind alle gestorben, die davon wissen können. 
 
Liebe Urgrossmutter,  mit dem Kriegenden wurdest Du ins Niemandsland der Vergessenden vertrieben. Von deinen eigenen Leuten! Niemand, auch Tante Marthel hat  erzählt, wie es euch nach dem Krieg erging. Meine einzige Chance an Informationen zu kommen, sind die Kirchenbücher von Neurode. Sie sind in Breslau im erzbischöflichen Archiv gelagert. Doch wird es Monate oder Jahre dauern, bis ich an die Bücher herankomme. Sie haben dort absolut lange Warteliste und sie versuchen jede Anfrage abzuwimmeln. Aber warum haben eure Leute nicht mehr von euch erzählt? Vom Erich, dem Mann der Martha wurde immer wieder mal gesprochen. Er wurde schon früh im Krieg als Soldat vermisst. Sie heirateten, bevor er nach Russland die Front musste. Über die toten Soldaten haben sie geredet und getrauert. Die Grosseltern und Eltern! Ja, ihr wart doch die Eltern von Anna und Martha. Über euch kein Sterbenswörtchen. Aus Schuldgefühlen? Weil sie euch im Stich gelassen haben? Euch dem Schicksal überlassen haben? Mehr hätten tun können? Sich nicht vorstellen wollten, was alles mit euch passiert sein könnte? 
 
Mein lieber Urenkel, schon seit vielen Jahren wähne ich mich im Land der Vergessenen. Ich habe nicht mehr damit gerechnet, dass mich jemand da herausruft. Matthias, einen schönen Namen trägst du. Es ist schon lange her, dass mich jemand gerufen hat - Ida heisse ich - das wirst du bald herausfinden. Schlagartig schnell fiel ich ins Niemandsland, in dem es kein Miteinander mehr gibt. Wir erkennen einander nicht und nur bei uns Letzteren, zu der ich noch einige Zeit gehöre, gibt es manchmal noch leise Ahnungen, wenn wir jemanden treffen, mit dem wir Lebenszeit geteilt haben. Bald wird bei mir auch dies vorbei sein und nichts mehr wird mich mit denen verbinden, die zwischen einem Anfang und einem Ende im Bewusstsein eines eigenen Namens gerufen werden können. Ich habe den Kontakt zu meinen Lieben sehr vermisst. Dass sie meinen Namen nicht mehr aussprechen wollten, hat mir sehr weh getan. Die Verbindung reisst mit dem Sterben nicht einfach ab. Es war eine schwere Zeit für mich, von meinen Lieben entrissen zu sein. Ich hätte ihnen noch so manches sagen wollen. In den Traumzeiten ist ein Fenster reserviert, in dem wir Verstorbenen mit den Lebenden in einen Austausch finden. Ich hätte ihnen noch so vieles sagen und ans Herz legen wollen. Das hätte mich auch in meiner Einsamkeit getröstet. Wir verstehen so wenig von diesen wichtigen Dingen.
 
Jetzt, lieber Matthias suchst Du den Kontakt zu mir. Völlig unerwartet. Ich freue mich sehr! Gerne würde ich dich umarmen und ein grosses Fest für dich ausrichten. Überraschend habe ich mich von dir finden lassen. Lange habe ich warten müssen. Ich kann mich nicht an mein Ende erinnern, denn es hat niemanden gegeben, der davon erzählt hat. Sie haben alle geschwiegen, weil sie sich geschämt haben. Eine furchtbare Zeit. Alle haben nur noch zu sich und den Allernächsten schauen wollen. Diese schreckliche Angst, einen falschen Schritt zu machen. Ein falsches Wort. Eine falsche Bewegung. Nichts fragen, nicht auffällig sein, Gesicht nach unten, um die Ecke schleichen. 
 
Schwarz. Leuchtend gelb. Milde Luftzüge. Herzflimmern. Kopf. Migräne. Babygeschrei. Milcheinschuss. Bitteres Urin. Mama. Papa. Pfefferminztee. Blumenbeete. Bienengeflüster. Männerpochen. Lehrer. Gazebinden. Ungeheuergeheul. Finsterwalde. Lieber Gott. Bitte. Hochzeitskleid. Nachgeburt. Allein. Schuhe binden. Lutschestange. Kaufmann. Werkstatt. Papa. Tochtermutter. Krätze. Panzerfaust. Kaffeetrinken. Kuchenblech. Hannele. Beichtstuhl. Wickeltisch. Pistole. Wehrmacht. Hundegebell. Knall. 
 
Es gab einer Zeit, die ich sehr geniessen konnte. Nach der Schule habe ich als Kindermädchen bei der Familie Dinkelhammer anfangen. Sie hatten vier Kinder. Zwei gingen schon zur Schule. Manchmal habe ich auch in der Küche mitgeholfen. Nach dem Mittag durfte ich mich eine Stunde in die Bibliothek setzen. Im Sommer fuhr die ganze Familie zu den Verwandten in ein grosses Schloss nach Schottland. Im zweiten Jahr fragte mich die Frau Professor, ob ich eine Ausbildung als Hausdame machen wollte. Ich sollte in einem Institut alles Nötige lernen. Auch Englisch und die Grundlagen in Konversation und Repräsentieren. Die Eltern hatten nichts dagegen. Im Gegenteil. Ich wurde Hausdame der Dinkelhammers. Sie waren sehr zufrieden mit mir. Das war die schönste Zeit in meinem Leben. Wenn nicht das grosse Unglück passiert wäre. Der Unfall des Professors. Er überlebte nicht. Die Frau wollte zurück zu ihrer Familie. Ich musste wieder zu den Eltern. Als Hausmädchen war ich zu alt. Und andere Bedienstete wurden nicht gesucht. In unserer Gegend gab es nur wenig reiche Menschen. Der Joseph Neumann, dein Urgrossvater war ein angesehener Handwerker in unserer kleinen Stadt. Er hatte Pech mit den Frauen. Sie starben ihm eine nach der anderen weg. Die Eltern haben alles eingefädelt und bald wurde Hochzeit gefeiert. Jetzt war ich die Frau vom Tischlermeister Neumann und musste einen grossen Mittagstisch mit den Gesellen und den Lehrlingen bedienen. Es waren traurige Jahre bei uns in der Neurode. Wir hatten es noch gut, doch die Arbeiter in den Bergwerken und die Frauen an ihren Webstühlen zu Hause, das war ein einziges Elend. Man sah den Menschen den Hunger an. Dann auch noch das grosse Grubenunglück mit den vielen Toten. Mein Gott, was haben die Leute alles durchmachen müssen. Die Anna fand einen Mann, den Paul Völkel. Sie heirateten und hatten in der Oberstadt in Waldenburg eine kleine Wohnung. In Waldenburg waren Armut und Hunger noch grösser als bei uns. Gut, dass der Paul als Bäcker und Konditor die kleine Familie versorgen konnte. Doch die Verhältnisse in Waldenburg waren so armselig, dass sie oft an den Sonntagen zu uns nach Neurode kamen. Was erzähle ich Dir nicht alles. Du willst in Verbindung mit mir treten. Da musst du ein bisschen was von mir wissen.
 
Ich habe tatsächlich Deinen Namen ausfindig machen können. Unerwartet in einer Schachtel mit meinen Zeugnissen und persönlichen Unterlagen. Als ich mit meiner Frau vor zwanzig Jahren die Reise zu Euch nach Neurode plante, haben wir der Mutter gezielt viele Fragen gestellt. Meine Mutter wusste sich auch zu erinnern, dass Du die Halbschwester der Mutter von Paul gewesen bist.  So sind wir beide sogar blutsverwandt. Ich mag diese Einteilung gar nicht. Erinnert mich arg an die Blut-und Bodenideologie der Nazis. Du bist meine Urgrossmutter. So oder so.
 
Ida, die Geschichte mit den Dinkelhammers kommt mir ziemlich fremd entgegen. Vielleicht kannst Du mir etwas von Joseph erzählen? Wie hast Du ihn als vierte Ehefrau erlebt? Auf einem digitalisierten Foto sehe ich ihn stolz mit einem Zylinder auf dem Kopf und einen eleganten Mantel mit einem Pelzkragen. Es muss am Taufttag der Hannele aufgenommen sein. Joseph der Tischlermeister macht eine stattliche Figur. Auf einem anderen Foto hält sich die kleine Hanna am Arm des Grossvater fest. Anna trägt ihre zweite Tochter, die Gisela auf dem Arm. Eine ältere Frau mit einem Mittelscheitel, steht in der zweiten Reihe. Bist Du vielleicht diese unscheinbare Frau? 
 
Matthias, deine Mutter war der Sonnenschein von Joseph. Sie war ein aufgewecktes Mädchen und umschwärmte die Familie mit ihrem unwiderstehlichen Charme. Ich hatte zwischen den beiden nichts zu suchen. Auch sonst. Ich war von Anfang an eine billige Arbeitskraft. Mit dem Joseph wurde ich an der Hochzeit von Anna und Paul verkuppelt. Als Schwester der Mutter vom Paul war ich natürlich eingeladen. Der Josef hatte für die beiden ein grosses Fest ausrichten lassen. Das liess er sich nicht nehmen. Er machte etwas her und so manche Geschichten wurden über ihn erzählt. Drei Frauen waren ihm weggestorben. Die Mutter von der Anna starb tatsächlich im Kindsbett. Die anderen beiden Frauen sind ihm weggelaufen. Gut, dass er die Martha hatte. Sie konnte ihm als einzige Paroli bieten. Ohne sie wäre er aufgeschmissen gewesen. Doch als sie den Erich kennenlernte, war klar, dass er bald ohne Frau im Haushalt auskommen musste. Da kam die Idee, mich mit ihm zusammenzubringen. Meine Leute waren froh, dass sie mich nicht als alte Jungfer durchfuttern mussten. So war das damals. Gefragt hat mich niemand. Ich sollte froh sein, gut versorgt zu sein.
 
Die schönen Ferientag in Neurode von denen Deine Mutter erzählte, waren für mich so schlimm wie jeder andere Tag auch. Du hast schon geahnt, dass die Geschichte mit den Dinkelhammers so nicht stimmt. Vielleicht ist es aber auch die einzige Geschichte, mit der ich es in der Welt überhaupt aushalten konnte. Weg von zu Hause. Weg von all der Armut und den Menschen, die es nicht gut mit mir meinten. Ich komme aus einer Familie von Tagelöhnern. Der Vater musste wenigsten nicht unter Tage. Die Mutter war zu Hause, die Arbeit am Webstuhl war Knochenarbeit. Am schlimmsten, wenn sie bis tief in der Nacht die Quote schaffen musste. Wir waren fünf Kinder - drei Geschwister starben sehr jung an der Lungenkrankheit, die als Gespenst über uns allen schwebte. Nach der Schule half ich der Mutter im Haushalt. Kochen, Waschen, Kartoffeln auf den Feldern, Anstehen, Schimpfen, Hauen, Kirchgang, Schicksal, Sterben. Die Mutter ganz plötzlich. Sie war schon lange schwach. Der Vater schaffte es nicht allein. Geld war immer knapp. So vergingen die Jahre. Die Kinder waren bald alle aus dem Haus. Ich blieb beim Vater und wurde mit ihm älter. An eine eigene Familie dachte ich nicht mehr. Der Vater alterte früh. Wir hatten es am Ende gut miteinander. Bis er starb. So war das einfach.  
 
Und dann diese Hochzeitsfeier, an der alles anders werden sollte. Er hat mich nicht einmal zum Tanz aufgefordert. Um Kinder sollte ich mir keine Sorgen machen. Das wäre sowieso schon vorbei. Mit der Gisela, der zweiten Tochter der Anna, hatte ich es gut. Sie war eher ein scheues Kind und stellt keine grossen Ansprüchen. Anders als die Hanna. Sie war die Prinzessin im Haus. Sie konnte den Joseph um die Finger wickeln. Später kam die Hanna immer ganz stolz in ihrer Uniform der Jungmädels. Heil Hitler, was anderes hatte sie nicht mehr im Kopf. Joseph zeigte sich gerne mit seiner Enkeltochter bei den Aufzügen. Erich, der Verlobte der Martha wurde dann zu Beginn des Russlandfeldzugs eingezogen. Martha hatte es schwer, als sie keine Briefe mehr von Front erhielt. Trotzdem packte sie weiterhin Pakete mit Lebensmitteln und Süssigkeiten für ihn. Sie wollte es nicht wahrhaben, dass er als Vermisster nicht mehr wiederkommen würde. Mir ging es gesundheitlich immer schlechter. Es drückte auf meine Seele. Das Hurrageschrei war mir von Anfang an zuwider. 
 
Und dann. Die Hölle weitete sich immer mehr aus. Ich hoffe, du musst so etwas nie erleben müssen. Mein Lieber. Es ist so schön, Dich kennenzulernen. Erzähl‘ etwas dir.
 
Ida, es tut mir sehr leid, was du in Deinem Leben erleiden musstest und dermassen unter die Räder gekommen bist. Deine Geschichte mit den Dinkelhammers kann ich jetzt sehr viel besser verstehen. Ja, sie gefällt mir! Ich kenne auch diese Schwere, ebenso schlimme Gewalt. Sie haben mich leer und bewusstlos gemacht. Das geflossene Blut und meine Tränen sind unsichtbar geblieben.Ich bin im Vergessen aufgewachsen. Im Land des Vergessens. Sie wollten die Gewalt, den Schrecken, den Krieg, die Schmerzen, den Abschied, die Schuld, die Opfer, die Täter, alle und alles dem Vergessen anheimstellen.
 
Mich haben sie vergessen. Im Niemandsland sind die Vergessenen ungeschützt und müssen permanent auf der Hut sein. Ich finde keine Ruhe. Die Bilder des Schreckens verfolgen mich. Ich kann sie nicht loslassen. So bin ich für die anderen eine Gefahr, denn sie wollen/können sich von meinen Geschichten nicht binden lassen. Vom Niemandsland suchen sie den Weg zu dem Ort, wo der Schrecken zwischen Anfang und Ende nicht mehr hinreicht. Zu diesem Ort möchte ich auch. Irgendwann kommen auch wir Vergessenen dort an.
 
Ida, Dein Erzählen ist mir kostbar.
 
An mein kleines Püppchen kann ich mich gut erinnern. Ein kleines Wollknäuel an einem hölzernen Stil. Erna, so hatte ich sie genannt. Erna war meine treue Gefährtin. Sie hat mich wieder zum Lachen bringen können, wenn ich traurig war oder mir weh getan habe. Erna hat ihren Kopf hin und her bewegt und manchmal habe ich sehen können, wie sie ihre Augen ganz gross machen konnte. Sie konnte mir auch sagen, wenn ich mal besonders aufpassen musste. „Irmchen pass auf, da kommt gerade der Bauer vom Feld. Er hat schlechte Laune und jagt die kleinen Kinder von der Strasse.“ 
 
In einer Schachtel mit meinen Zeugnissen und anderen Dokumenten hat es einen Plastiklaster, der mich an meine frühe Kindheit erinnert. Die Geschichte, die ich mit dem Laster verbinde, ist eine der ganz wenigen Erinnerungen, die mir aus dieser Zeit präsent ist. Es muss  kurz vor meiner Einschulung gewesen sein. Mit den Eltern war ich alleine unterwegs. In einem Schreibgeschäft waren Spielzeugautos ausgestellt. Ich war verrückt nach Autos.  Mein grösster Wunsch war ein Auto aus Metall, wo man die Türen aufmachen konnte. Ich drängelte solange, bis die Eltern mit eines kauften. Ein kleinen blassroten Transporter aus Plastik. Da waren keine Türen zu öffnen. Als wir aus dem Schreibgeschäft waren, hat die Mutter mich sehr wütend zusammengestaucht. So etwas dürfe ich nie mehr machen. Vor den Leuten so ein Theater machen. Wir müssen sparen und hätten kein Geld für solche Sachen.
 
Mich macht die Geschichte traurig. An meine Kindheitsjahre kann ich mich gut erinnern. Die Eltern waren froh, wenn sie uns Kinder satt kriegen konnten. Es fehlte an allem. Die Kleider wurden von Kind zu Kind weitergetragen und geflickt, bis sie auseinanderflogen. Im Winter war es bitterkalt und so blieben wir die meiste Zeit zu Hause in der kleinen dunklen Stube mit dem Kohleofen in der Ecke. Von uns Kindern war immer eines krank und lag am Tag auf dem Bett der Eltern. In der Nacht mussten wir zwei Matratzen für uns Kinder ausrollen. Zu dritt lagen wir unter der Decke und wärmten uns gegenseitig. Paula, die Älteste von uns, erzählte uns dann manchmal Geschichten. Ich weiss noch, wie wir dann immer enger zusammenrutschten.
 
Die Geschwister waren für mich die Hölle. Die abrufbaren Erinnerungen beginnen erst sehr spät. Da war ich vielleicht dreizehn. Ab da könnte ich reihenweise Geschichten erzählen, wie sie mich erniedrigt und gequält haben. Ausgelacht haben sie mich, wenn sie mich besonders schlimm gedemütigt hatten. Doch ich habe sie vergöttert. In Therapiestunden sind auch Bilder aus früher Kindheit aufgestiegen. Am Schlimmsten waren die Schwester und der Bruder, der nach Michael kam. Sie haben mich physisch und psychisch in sadistischer Manier gequält. Ihre abgründige Verachtung bringen sie bis heute zum Ausdruck. 
 
Hallo Ihr Beiden, Vergessen ist mit Gewalt gekoppelt. Schön, wie du dich, Ida, ohne inneren Groll an deine Geschwister und Eltern erinnern kannst. Mich berührt die Szene, wie ihr in den Nächten zusammenrückten und euch mit kleinen Geschichten getröstet habt. Und wie du beim Vater geblieben bist und ihn im Sterben begleitet hast. Mit meinem Vergessen fing ein grosses Unheil in unserer Familie an. Thomas, musste mich als mein Nachfolger ersetzen. Sein zweiter Vornamen, der des Vaters, wurde ihm von mir übertragen. Armselig. Schlimm, wie mit jedem Vergessen die Gewalt und der Schrecken grösser wird. Nicht nur mathematisch, sondern als bleibende Vollzugsverfügung. Weitergereicht an die nächste und die nächsten Generationen. 
 
Michael, gut, dass du dich einschaltest. Ich erzähle euch, wie es mit Joseph weiterging. Nach aussen hat er den Ehrenmann gespielt, doch wehe, wenn ich allein mit ihm war. Die anderen Frauen haben es nicht mehr aushalten können mit ihm. Er konnte grausam und äusserst gewalttätig werden. Das konnte ich keinem sagen. An wen hätte ich mich denn wenden sollen? Der Priester wollte es allen Recht machen. Vor allem bei den gut Situierten. Und zu diesen wollte Joseph unbedingt gehören. Ich kann nichts Gutes über Euren Urgrossvater sagen. Das tut mir sehr leid. 
 
Ida, Michael, mir geht es gerade gar nicht gut. Ich werde sehr müde. Am liebsten würde ich mich ins Bett legen und die Decke über meinen Kopf ziehen. Die Gewalt bei uns in der Familie spüre ich bis in meine kleine Zehe. Gewalt hat jeden und alles in unserer Familie ergreift. Täter:innen, die sich abwechseln. Opfer, die als Geopferte zu Täter:innen werden. Ich spüre die Ohnmacht, die sich als Müdigkeit über das Bewusstwerden legt. 
 
Am Schlimmsten diese Sinnlosigkeit. Warum? Ich wollte doch nur leben und es ein wenig gut haben. Dem Joseph wollte ich eine gute Ehefrau sein. Die Mädchen hätte ich gerne als Grossmutter verwöhnt. Doch es ging nicht. Ich habe mich regelrecht vor ihnen versteckt, wenn sie zu Besuch in den Ferien kamen. Nur noch ein tauber Schmerz, der mich am Leben hielt. Ich bin froh, dass ich dir das sagen kann. Es muss ein Ende haben damit. Der Krieg hat dann alles noch viel schlimmer gemacht. Die Millionen Menschen, die ihr Leben lassen mussten. Ich habe von Politik nicht viel verstanden, doch mir war das Heldengeprahle zuwider. Am Ende vom Krieg die gerechte Strafe. Nein, ich weiss nicht. Jede Gewalt ist grausam. Am Morgen ist ein Gruppe betrunkener Polen ins Haus gestürmt. Den Josef haben sie im Bett erschlagen. Ich habe es mitansehen müssen. Was sie mit Martha gemacht haben, weiss ich nicht. Gar nichts weiss ich. Alles weg. Alles taub. Müde bin ich in einer anderen Welt aufgewacht. Im Niemandsland. Kein Geschrei, kein Lachen, ohne Gefühle. Keine Angst. Keine Hoffnung. Keine Erinnerung. Ohne Namen. Bis du mich gerufen hast.
 
Jetzt bin ich wieder wach. Aufgewacht aus dieser trägen Müde. Wenn wir es schaffen könnten, die Glocke des Vergessens zu heben. Wenn uns ein waches Sehen und aufmerksames Hören gelingen könnte. Ich brauche jetzt eine Pause und werde mich bald wieder melden.
 
Ida, Michael, ich schlafe immer schlechter. Ich wache meistens nach drei Stunden auf, bin dann hellwach, hoffe, es wäre schon Morgen und die Nacht zu Ende. Oft ist mir übel, Tagtraum-schlaufen, Körperspannung, die mich nicht in Ruhe lässt. Heute Morgen habe ich befürchtet, wir könnten dem Joseph Unrecht tun. Vielleicht war er gar nicht gewalttätig? Ich kenne Euch beide doch gar nicht. Vielleicht hast Du mir etwas erzählt, was ich gerade hören wollte. Der Urgrossvater ein frauenverachtender Lustmolch. Dann hätte ich zumindest eine vorzeigbare Tätergeschichte.
 
Matthias, Du du bist sehr sensibel und hast gemerkt, wie unruhig ich wurde, als du das jetzt sagtest. Der Joseph war böse mit mir. Das kannst du mir glauben. Dein Urgrossvater hatte keine Hemmungen, mich zu schlagen und über mich zu kommen. Du kennst das Foto, das ihn mit Zylinder und Sonntagsmantel zeigt. Ein Aufschneider war er. Ein Lebemann wollte er sein. Ich weiss, wo er überall das Geld ausgegeben hat. Mein Haushaltsgeld reichte vorne und hinten nicht. Natürlich war er auch in der Partei. Das waren ja die meisten. Der Paul, mein Neffe, der Vater von Hanna, war auch drin. Die Anna sowieso. Wie sie stolz waren, Hanna in Uniform zu sehen. Es waren grausame Zeiten. Im  November 38 waren keine Juden mehr in Neurode, doch was in Waldenburg passierte, war wirklich schlimm. Auf den Marktplatz haben sie sie getrieben. Bis auf die Unterwäsche mussten sie sich ausziehen. Und hier in Neurode haben sie sich über die Geschichten lustig gemacht.
 
Ida, ich glaube dir. Unbedingt. Und doch kann ich dich kaum mehr spüren. 
Du bist sehr weit weg. In mir verdunkelt es sich alles. 
 
Du hast dir wohl ein bisschen zu viel zugemutet. Ist wohl eine Nummer zu gross für dich? Schade, ich hatte grosse Freude, als du mich gerufen hast. Bei meinem Namen. Joseph  hat mich nur „Frau“ genannt. Für die anderen war ich die Bedienstete. Mich haben sie ganz schnell vergessen. Ich konnte nicht vergessen. Auch jetzt nicht im Niemandsland. Was sie mir angetan haben, trage ich mit/in mir. Ich sollte mich auf die Suche nach Michael machen. Vielleicht finde ich ihn hier bei uns. 
 
Ida, ich komme tatsächlich nicht nach. Eine kalte Leere breitet sich aus. Aufgeben. Resignieren. Kapitulieren. Verdammter Mist. Ich mag nicht mehr. Und Michael hält es auch nicht aus. 
 
Ich bin da. Ich höre zu. Ich schmerze mit euch beiden.
 
Erzählen geht nicht. Die Geschichten sind verschlossen. Wir müssen andere Wege suchen.
Ich möchte deinen Atem spüren. Tief und voll. Wo du auch bist. Michael, lass uns gemeinsam Ida bitten, dass sie uns als ihre Urenkel segnet. 
 
 
Lasst uns die Halbinsel Selch umrunden. 
Unsere Haare wehen im Ostwind.
Unsere Glieder erheben sich
 
Eros erhebe dich
Baal zerstöre die ungläubigen Seelen
Demeter kauft nur noch Weledaprodukte
Apollo, du musst die Batterien wechseln.
 
 
Wir können uns nicht viel erzählen. Trotzdem sind wir in Beziehung. Es reicht, wenn ich dich rufen höre: „Ida, hey, hörst du mich? Ida, was meinst du dazu? Ida, schön, dass ich dich gefunden habe.“
 
Du hast dich gefreut, als ich dich das erste Mal angesprochen/gerufen habe. Mir ist hängengeblieben, wie vergeblich lange du auf einen Kontakt aus der Familie gewartet hast. Wie wichtig dieser im Niemandsland für dich ist. Ich lese momentan das Buch „Windstärke 17“  der jungen Autorin Caroline Wahl, die ihrer Protagonist und Hauptfigur den Namen „Ida“ übertragen hat. Ida, eine junge Studentin der Literaturwissenschaft ist traumatisiert durch den Tod ihrer Mutter. Stop. Ich mag keine Zusammenfassungen schreiben. Ich bin dauernd am Heulen. Die Mutter war Alkoholikern und starb durch eine Überdosis Tabletten. Stop. Ich müsste dir das ganze Buch nacherzählen. Das will ich nicht. Es berührt mich zutiefst, zu lesen, wie Ida zerrissen ist von ihren Schuldgefühlen, zu wenig für die Mutter getan zu haben und ihrer Überforderung seit frühster Kindheit Verantwortung für die Mutter tragen zu müssen. Vor zwei Monaten ist die Mutter gestorben. Stop. Sie landet ohne Plan an der Ostsee in einem kleinen Dorf auf Rügen. Marianne und Knut, ein älteres Ehepaar nimmt sie bei sich auf. Kitsch hoch drei, doch  gut geschrieben. Verliebt sich in Leif. Erzählt, wie ihre Mama gestorben ist, wie sie mehr für die Mama hätte machen müssen, wie sie ihre Mama nicht mehr aushalten konnte, wie die Mama ihr in den Nächten erscheint. Schwimmt mehrmals zu weit in die Ostsee hinaus. Hat Angst, enttäuscht zu werden. Stop. Eruptiv bricht es aus mir heraus. Eine oszillierende Spannung, die sich aufbaut. Ida in ihren Abgründen. Ida in ihren Sehnsüchten. Begegnungen, Berührungen, Erlaubnisse und noch mehr Kitsch. Marianne, die eine Chemotherapie anfängt. Ida, Ersatztochter für eine andere. Das Ende muss ich noch lesen. Mich berührt diese Soap Opera. 
 
Lieber Matthias, ich habe dir gut zugehört. Ich sehe, wie lange du schon an den Abgründen taumelst. Gefährlich. Wir Vergessenen sind im Niemandsland sicher. Taub und stumm, doch wir sind geschützt. Im Land der Lebenden ist es anders. Es hat dich zerrissen wieder und immer wieder. Du konntest nlcht verstehen, was mit dir geschah. Du hattest kein Empfingen was du mit anderen gemacht hast. Deine Sehnsucht war immer die eines Getriebenen.
 
Liebe Ugrossmutter Ida, welch ein Zufall, dass ich diese andere Ida im Buch angetroffen habe. Ich weiss nicht, was ich von den vielen Tränen, die ich beim Lesen vergossen habe, zu halten habe. Diese Rührseligkeit mag ich überhaupt nicht mehr. Sie erinnert mich an meinen Vater und sein klebriges Selbstmitleid, wenn er zu getrunken hat. Alkohol machte ihn nicht aggressiv, sondern versetzte ihn in ein bedürftiges Kleinkind. Ekelerregend! Ich habe mir sehr fest vorgenommen, dass ich meinen eigenen Kindern solche Szenen nicht zumuten will. Wenn der Vater zum bedürftigen Kleinkind mutiert, kann dass für die Kinder nicht gut sein. Scheisse. Auch meiner Partnerin will ich das nicht zumuten. Habe ich lange genug gemacht. Und wenn ich es allein erlebe? Meine Bedürftigkeit nach oben dringt mit meinen korrumpierten Persönlichkeitsanteile? Wenn ich merke, wie feige ich bin. Ein Weichei. Und mich darüber ärgere, wenn ich andere als solche beschimpfe. Wenn ich mich zum Kotzen fühle. Und lese, wie eine junge Frau darüber schreibt, eine Protagonistin erfindet und mit ihr aushält, sich zum Kotzen zu fühlen. Dann muss ich heulen. Ich will stark sein. Nein, ich will in allen meinen Irrungen zu Bewusstsein kommen. Das ist! Nicht nur dahintreiben und warten bis es vorbei ist, sondern irgendwie aufwachen. Ich habe die Ahnung, dass wir Vergessenen unseres Bewusstseins beraubt wurden. Das ist das Schlimmste, was mit einem geschehen kann. Als ob grosse, wichtige, lebensnotwendige Stücke des menschlichen Antlitzes abfallen.
 
Ich merke, wie auch in mir etwas passiert. Tränen kann ich nicht mehr vergiessen. Die habe ich mir dem Ende meiner leiblichen Inkarnation verloren. Doch in deinem Rufen passiert etwas mir mit. Hier im Niemandsland muss niemand Schmerz erleiden. Doch wir Vergessenen sind noch nicht an dem Anderen teilhaftig. In deinem Leben warst du bisher als Vergessener ein Getriebener im Angesicht sinnloser Leere. Ich kann das neue Leben nicht beginnen, weil die Zeit der Erinnerung noch nicht getilgt ist. Ich bin noch erreichbar, das merke ich, wenn Du mich rufst. Viele andere könnten mich noch erreichen. Sie müssten mich gar nich bei meinem Namen nennen, wie du das mein lieber Matthias tust. Sie bräuchten nur fragen, wo ich, wo wir, geblieben sind. Wo wir begraben sind. Wie wir den Übergang gefunden haben. Wie es uns erging, als wir den letzten Atemzug taten. Wie schlimm es war, ohne die Tränen unserer Lieben auskommen zu müssen. Wie sie alle auf einmal fort waren. Und es kalt in unseren Gräbern wurde. Langsam finde ich die Spur. 
​
2. Teil
 
Liebe Ida, seit Tagen habe ich dir nicht geantwortet. Schade. Wenn ich deine letzten Zeilen lese, bin ich erstaunt, wie gut ich dich verstehe. Es kommt mir überhaupt nicht fremd vor, was du mir mitteilst. Ja, so fühle ich mich oft, als ein Vergessener, der im Angesicht sinnloser Leere getrieben ist - herumtreibt. Das fühlt sich nicht gut an. Im Moment merke ich es gar nicht. Bin mir meiner nicht bewusst. Meistens. Erst mit grossem Abstand. In Reflexion mit einem Gegenüber gelingt es manchmal. 
 
Lieber Matthias, du bist dir selber nicht bewusst. Das muss schwierig für dich sein. Du machst Kunst. Du schreibst, singst, bist als Contact-Clown unterwegs. Vate, Ehemann und so vieles mehr. Das scheint vor mir auf, wenn du dich mir öffnest. Hey. Du. Ich hatte es nicht einfach im Leben. Nichts da mit Hausdame und all den Träumereien. Ich habe viel gearbeitet. Manche Tage waren so schwer, dass ich fast im Stehen eingeschlafen bin. So erschöpft war ich von der Hausarbeit und als Dienstmädchen für alle und jeden verfügbar. Die Ida macht das. Die Ida ist eine Fleissige. Die Ida kann gut mit den Kindern. Die Ida ist sich für keine Arbeit zu schade. Ich hätte gerne im Kirchenchor gesungen, doch ich musste mich am Abend noch manche Stunden an den Webstuhl setzen oder die Wäsche waschen, wenn ich es am Tag nicht geschafft habe. Ich habe oft gedacht, dass ich die viele Arbeit nicht mehr schaffe, doch was blieb mir übrig. Doch ich bin mir nicht verloren gegangen. Sie haben über mich bestimmt. Ich habe nicht rebelliert. Brechen liess ich mich nicht. In mir war ich stark. Sehr stark, das kannst du mir glauben. Du bist auch stark. Anders. Du hast nicht aufgegeben, das ist deine grosse Kraft. 
 
Ich habe grossen Respekt, wie du deine schwere Last getragen hast. Und dich dabei nicht vergessen hast. Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Es graust mich. Mir vorstellen, immer die Arbeit, der strenge Tagesablauf, die schmerzenden Glieder, die Erschöpfung, tagein, tagaus - ich könnte, wollte dies nicht. 
 
Und ich hätte nicht nicht schon lebend eineVergessene sein wollen. Dann lieber arbeiten und krampfen. Es muss sich fürchterlich anfühlen, wenn Nichts mehr da ist. Nichts. Nada. Nein, das hätte ich nicht aushalten wollen.
 
Es macht mir grossen Eindruck, wie du an der harten Arbeit und den dunklen Tagen nicht zerbrochen bist. Ich freue mich sehr, dich gefunden zu haben. 
 
Das geht nicht einfach so und von alleine. Der Vater und die Kleinen haben mich gebraucht. Ohne Mutter wären sie verloren gewesen. Der Joseph hat mich missbraucht. Ich kenne den Unterschied.
 
Der Urgrossvater Joseph. Es muss schlimm gewesen sein. Irgendwie fühle ich mich fast  mitschuldig. Ich trage als Sohn, Enkel, Urenkel eine Mitverantwortung.
 
Nein, das stimmt nicht. 
 
Der Grad zwischen Brauchen und Missbrauchen ist sehr schmal.

Mein Liebe ist noch nicht gestorben. Ich weiss, du magst das Wort „Liebe“ nicht. Ist dir zu gross. Wir Vergessenen können nicht anders. Wir haben genug Schlechtes erlebt. Gesehen, wozu Menschen fähig sind. Wer will nicht gut sein. Doch es braucht so wenig und es kehrt sich. Wir können nur lieben. Alleine können wir nicht lieben. Wir brauchen euch. Ich brauche dich. Da fängt Liebe an. So, wie auch dein Sohn von Dir gesehen, gehört und geliebt werden will.
 
Ich weiss, wie schlimm es sich anfühlt, nicht gesehen zu werden. Sie wollen immer noch nicht sehen, hören, riechen, tasten, schmecken, glauben, was mir als Kind angetan wurde. Das macht mich einsam. Nimmt mir mein Selbst. Treibt mich in die Leere. Nimmt mir die Liebe.
 
Als junge Frau war ich sehr hübsch. 
 
Wieso sagst du mir das?
 
Jede Frau will schön sein. Ich bin nicht oft Tanzen gegangen. Die Männer haben sich nach mir umgedreht. Das habe ich geniessen können. Es gab einen, der hat um mich geworben. Das war der Heinz aus dem Nachbarort. Also, ich war kein hässliches Entlein, wie du heimlich denkst.
 
Ida, ich hätte Lust, dich zu einem Tanz aufzufordern. 
 
mach‘ das. Ich führe dich.
 
ich singe dazu und schenke dir mein schönstes Lächeln
 
dann gönnen wir uns Kaffee und Kuchen
 
wir stossen mit einem Glas Sekt auf das Leben an. L‘chaim.
 
 

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