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Land der Vergessenen
 

1. Teil
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Liebe Urgrossmutter, meine Mutter, Hannele hat von dir und Neurode erzählt. Sie war als Kind oft bei Euch in den Ferien. Sie hat erzählt, dass du die vierte Frau meines Urgrossvaters warst. Im Kindsbett seien die Frauen vor dir gestorben. Die Mutter meiner Grossmutter Anna seine erste Ehefrau.
 
Ich kenne deinen Vornamen noch nicht - ich werde mich auf die Suche machen. Ich weiss, dass dein Mann, mein Urgrossvater, Joseph heisst. Das habe ich in einem archivierten Adressbuch von Neurode dem heutigen Nowa Ruda herausgefunden. Ehefrauen werden nicht genannt. Die Kirchenbücher der katholischen Pfarrei werde ich hoffentlich bald einsehen können.
 
Liebe Urgrossmutter, mein ältester Bruder, der Michael, wurde wie auch du dem Familienvergessen preisgegeben. Er ist sehr früh mit vier Monaten gestorben. Hanna, deine Enkeltochter und Norbert, ihr Mann, haben dem kleinen Michael kein Grab gegeben. Sie wollten ihn so schnell wie möglich vergessen. Mit ihm habe ich vor ein paar Monaten Kontakt aufgenommen. Ich habe Michael meine Leidensgeschichte erzählt. Wir sind in einen regen Austausch gekommen. Er kennt sich mit der Gewalt des Vergessenwerdens aus.
 
Nun habe ich die Spur zu dir aufgenommen und hoffe sehr,  auch mit dir in Verbindung treten zu können. Auf einem digitalisierten Foto könntest du mit dem  Urgrossvater Joseph abgelichtet sein. Beide seid ihr im mittleren Alter. Mit meiner Ehefrau habe ich eurer Haus in Neurode vor bald zwanzig Jahren besucht. Auf den Spuren meiner Vorfahren zu meinen Wurzeln wollte ich mich führen lassen. Das ist mir nicht gelungen. So schade, wie fokussiert ich war, irgendwelche Vorführheldengeschichten zu entdecken. Ich war auf der Suche nach geschichtsträchtigen Ahnen. Dir habe ich keinen einzigen Gedanken gewidmet. Irgendwo in eurer Nähe habe ich den Grabstein eines Rittmeisters aus dem 18. Jahrhundert entdeckt. Das war die einzige Trophäe, die ich mit nach Hause nehmen konnte.
 
Der Krieg und die Vertreibung haben die meisten Erinnungsspuren meiner Herkunftsfamilien in Niederschlesien verwischt. Von euch, den Urgrosseltern in Neurode weiss ich nur aus Erzählungen meiner Mutter Hanna, die du sicherlich als kleines Mädchen gekannt haben musst. Mein Vater hat nie von seinen Grosseltern gesprochen. Vielleicht hat er sie gekannt oder sie waren schon gestorben. Wie auch meine beiden Grossväter. Beide lebten nicht mehr, als ich geboren wurde. Über den Paul, deinem Schwiegersohn hat Hanna auch nicht viel erzählt, doch sie muss ihn als Kind sehr gern gehabt haben. Er arbeitete als Bäcker und Konditor in Waldenburg. Mit der Hanna trat er bei Abendveranstaltungen manchmal  als „Pat und Patterchen“ auf. Auf Fotographien trägt er den beliebten Hitlerschnauz. Die Vertreibung nach Braunschweig soll ihn gebrochen haben. Mit Anna, deiner Stieftochter habe ich in Wenden, einem Vorort von Braunschweig das Grab von Paul zigmal besucht. Die Oma hat die Blumen gegossen und ums Grab geharkt. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie etwas von ihm erzählte. Es gab noch ein anderes Grab auf dem Friedhof in Wenden. Eines ohne Grabstein. Da war die Tante Liesel begraben, die Schwester von Paul. Warum die Liesel bei ihrer Vertreibung aus Waldenburg  beim Paul und seiner Familie war, weiss ich nicht. Sie wohnte dann mit ihnen ein paar Jahre in den zwei kleinen Zimmern, die ihnen in Braunschweig zugeteilt waren. Vom anderen Paul, dem Vater meines Vaters Norbert, weiss ich fast gar nichts. Nur die Hanna wusste Bruchstücke vom ihm zu erzählen. Von den Eltern und der Familie von Paul hat meine Mutter nie etwas erzählt. Mein Vater hat nicht über seine Vergangenheit in Schlesien erzählt.
 
Liebe Ida, mit Erschrecken habe ich vor ein paar Wochen - ja, länger ist es noch nicht her - in meinem Erinnern gemerkt, dass die Hanna nichts, rein gar nichts erzählt hat, wie du in Neurode das Kriegsende erlebt hast, ob du die Vertreibung überlebt hast, wo und wann du gestoben bist und wie es deinem Mann erging.  Mit dem Kriegsende fängt das grosse Vergessen an.
 
Martha, eure jüngere Tochter hat mit ihrem Mann Erich bei euch im Haus gewohnt. Ich habe sie als Tante Martel gut gekannt. Nach dem Tod von Paul zog sie zur Anna nach Wenden in die kleine Wohnung. Als Kind war ich bei den beiden oft zu Besuch. Von euch habe ich nichts mehr gehört. Fragen, was mit euch nach dem Krieg passiert ist, habe ich als Kind nicht gestellt. Und jetzt sind alle gestorben, die davon wissen können. 
 
Liebe Urgrossmutter,  mit dem Kriegenden wurdest Du ins Niemandsland der Vergessenden vertrieben. Von deinen eigenen Leuten! Niemand, auch Tante Marthel hat erzählt, wie es euch nach dem Krieg erging. Meine einzige Chance an Informationen zu kommen, sind die Kirchenbücher von Neurode. Sie sind in Breslau im erzbischöflichen Archiv gelagert. Doch wird es Monate oder Jahre dauern, bis ich an die Bücher herankomme. Sie haben dort absolut lange Wartelisten und sie versuchen jede Anfrage abzuwimmeln. Aber warum haben eure Leute euer Schicksal verschwiegen? Vom Erich, dem Mann der Martha wurde immer wieder mal gesprochen. Er wurde schon früh im Krieg als Soldat vermisst. Sie heirateten, bevor er nach Russland die Front musste. Über die toten Soldaten haben sie geredet und getrauert. Die Grosseltern und Eltern! Ja, ihr wart doch die Eltern von Anna und Martha. Über euch kein Sterbenswörtchen. Aus Schuldgefühlen? Weil sie euch im Stich gelassen haben? Euch dem Schicksal überlassen haben? Mehr hätten tun können? Sich nicht vorstellen wollten, was alles mit euch passiert sein könnte? 
 
Mein lieber Urenkel, schon seit vielen Jahren wähne ich mich im Land der Vergessenen. Ich habe nicht mehr damit gerechnet, dass mich jemand da herausruft. Matthias, einen schönen Namen trägst du. Es ist schon lange her, dass mich jemand gerufen hat - Ida heisse ich - das wirst du bald herausfinden. Schlagartig schnell fiel ich ins Niemandsland, in dem es kein Miteinander mehr gibt. Wir erkennen einander nicht und nur bei uns Letzteren, zu der ich noch einige Zeit gehöre, gibt es manchmal noch leise Ahnungen, wenn wir jemanden treffen, mit dem wir Lebenszeit geteilt haben. Bald wird bei mir auch dies vorbei sein und nichts mehr wird mich mit denen verbinden, die zwischen einem Anfang und einem Ende im Bewusstsein eines eigenen Namens gerufen werden können. Ich habe den Kontakt zu meinen Lieben sehr vermisst. Dass sie meinen Namen nicht mehr aussprechen wollten, hat mir sehr weh getan. Die Verbindung reisst mit dem Sterben nicht einfach ab. Es war eine schwere Zeit für mich, von meinen Lieben entrissen zu sein. Ich hätte ihnen noch so manches sagen wollen. In den Traumzeiten ist ein Fenster reserviert, in dem wir Verstorbenen mit den Lebenden in einen Austausch finden. Ich hätte ihnen noch so vieles sagen und ans Herz legen wollen. Das hätte mich auch in meiner Einsamkeit getröstet. Wir verstehen so wenig von diesen wichtigen Dingen.
 
Jetzt, lieber Matthias suchst Du den Kontakt zu mir. Völlig unerwartet. Ich freue mich sehr! Gerne würde ich dich umarmen und ein grosses Fest für dich ausrichten. Überraschend habe ich mich von dir finden lassen. Lange habe ich warten müssen. Ich kann mich nicht an mein Ende erinnern, denn es hat niemanden gegeben, der davon erzählt hat. Sie haben alle geschwiegen, weil sie sich geschämt haben. Eine furchtbare Zeit. Alle haben nur noch zu sich und den Allernächsten schauen wollen. Diese schreckliche Angst, einen falschen Schritt zu machen. Ein falsches Wort. Eine falsche Bewegung. Nichts fragen, nicht auffällig sein, Gesicht nach unten, um die Ecke schleichen. 
 
Schwarz. Leuchtend gelb. Milde Luftzüge. Herzflimmern. Kopf. Migräne. Babygeschrei. Milcheinschuss. Bitteres Urin. Mama. Papa. Pfefferminztee. Blumenbeete. Bienengeflüster. Männerpochen. Lehrer. Gazebinden. Ungeheuergeheul. Finsterwalde. Lieber Gott. Bitte. Hochzeitskleid. Nachgeburt. Allein. Schuhe binden. Lutschestange. Kaufmann. Werkstatt. Papa. Tochtermutter. Krätze. Panzerfaust. Kaffeetrinken. Kuchenblech. Hannele. Beichtstuhl. Wickeltisch. Pistole. Wehrmacht. Hundegebell. Knall. 
 
Es gab einer Zeit, die ich sehr geniessen konnte. Nach der Schule habe ich als Kindermädchen bei der Familie Dinkelhammer anfangen. Sie hatten vier Kinder. Zwei gingen schon zur Schule. Manchmal habe ich auch in der Küche mitgeholfen. Nach dem Mittag durfte ich mich eine Stunde in die Bibliothek setzen. Im Sommer fuhr die ganze Familie zu den Verwandten in ein grosses Schloss nach Schottland. Im zweiten Jahr fragte mich die Frau Professor, ob ich eine Ausbildung als Hausdame machen wollte. Ich sollte in einem Institut alles Nötige lernen. Auch Englisch und die Grundlagen in Konversation und Repräsentieren. Die Eltern hatten nichts dagegen. Im Gegenteil. Ich wurde Hausdame der Dinkelhammers. Sie waren sehr zufrieden mit mir. Das war die schönste Zeit in meinem Leben. Wenn nicht das grosse Unglück passiert wäre. Der Unfall des Professors. Er überlebte nicht. Die Frau wollte zurück zu ihrer Familie. Ich musste wieder zu den Eltern. Als Hausmädchen war ich zu alt. Und andere Bedienstete wurden nicht gesucht. In unserer Gegend gab es nur wenig reiche Menschen. Der Joseph Neumann, dein Urgrossvater war ein angesehener Handwerker in unserer kleinen Stadt. Er hatte Pech mit den Frauen. Sie starben ihm eine nach der anderen weg. Die Eltern haben alles eingefädelt und bald wurde Hochzeit gefeiert. Jetzt war ich die Frau vom Tischlermeister Neumann und musste einen grossen Mittagstisch mit den Gesellen und den Lehrlingen bedienen. Es waren traurige Jahre bei uns in der Neurode. Wir hatten es noch gut, doch die Arbeiter in den Bergwerken und die Frauen an ihren Webstühlen zu Hause, das war ein einziges Elend. Man sah den Menschen den Hunger an. Dann auch noch das grosse Grubenunglück mit den vielen Toten. Mein Gott, was haben die Leute alles durchmachen müssen. Die Anna fand einen Mann, den Paul Völkel. Sie heirateten und hatten in der Oberstadt in Waldenburg eine kleine Wohnung. In Waldenburg waren Armut und Hunger noch grösser als bei uns. Gut, dass der Paul als Bäcker und Konditor die kleine Familie versorgen konnte. Doch die Verhältnisse in Waldenburg waren so armselig, dass sie oft an den Sonntagen zu uns nach Neurode kamen. Was erzähle ich Dir nicht alles. Du willst in Verbindung mit mir treten. Da musst du ein bisschen was von mir wissen.
 
Ich habe tatsächlich Deinen Namen ausfindig machen können. Unerwartet in einer Schachtel mit meinen Zeugnissen und persönlichen Unterlagen. Als ich mit meiner Frau vor zwanzig Jahren die Reise zu Euch nach Neurode plante, haben wir der Mutter gezielt viele Fragen gestellt. Meine Mutter wusste sich auch zu erinnern, dass Du die Halbschwester der Mutter von Paul gewesen bist.  So sind wir beide sogar blutsverwandt. Ich mag diese Einteilung gar nicht. Erinnert mich arg an die Blut-und Bodenideologie der Nazis. Du bist meine Urgrossmutter. So oder so.
 
Ida, die Geschichte mit den Dinkelhammers kommt mir ziemlich fremd entgegen. Vielleicht kannst Du mir etwas von Joseph erzählen? Wie hast Du ihn als vierte Ehefrau erlebt? Auf einem digitalisierten Foto sehe ich ihn stolz mit einem Zylinder auf dem Kopf und einen eleganten Mantel mit einem Pelzkragen. Es muss am Taufttag der Hannele aufgenommen sein. Joseph der Tischlermeister macht eine stattliche Figur. Auf einem anderen Foto hält sich die kleine Hanna am Arm des Grossvater fest. Anna trägt ihre zweite Tochter, die Gisela auf dem Arm. Eine ältere Frau mit einem Mittelscheitel, steht in der zweiten Reihe. Bist Du vielleicht diese unscheinbare Frau? 
 
Matthias, deine Mutter war der Sonnenschein von Joseph. Sie war ein aufgewecktes Mädchen und umschwärmte die Familie mit ihrem unwiderstehlichen Charme. Ich hatte zwischen den beiden nichts zu suchen. Auch sonst. Ich war von Anfang an eine billige Arbeitskraft. Mit dem Joseph wurde ich an der Hochzeit von Anna und Paul verkuppelt. Als Schwester der Mutter vom Paul war ich natürlich eingeladen. Der Josef hatte für die beiden ein grosses Fest ausrichten lassen. Das liess er sich nicht nehmen. Er machte etwas her und so manche Geschichten wurden über ihn erzählt. Drei Frauen waren ihm weggestorben. Die Mutter von der Anna starb tatsächlich im Kindsbett. Die anderen beiden Frauen sind ihm weggelaufen. Gut, dass er die Martha hatte. Sie konnte ihm als einzige Paroli bieten. Ohne sie wäre er aufgeschmissen gewesen. Doch als sie den Erich kennenlernte, war klar, dass er bald ohne Frau im Haushalt auskommen musste. Da kam die Idee, mich mit ihm zusammenzubringen. Meine Leute waren froh, dass sie mich nicht als alte Jungfer durchfüttern mussten. So war das damals. Gefragt hat mich niemand. Ich sollte froh sein, gut versorgt zu sein.
 
Die schönen Ferientag in Neurode von denen Deine Mutter erzählte, waren für mich so schlimm wie jeder andere Tag auch. Du hast schon geahnt, dass die Geschichte mit den Dinkelhammers so nicht stimmt. Vielleicht ist es aber auch die einzige Geschichte, mit der ich es in der Welt überhaupt aushalten konnte. Weg von zu Hause. Weg von all der Armut und den Menschen, die es nicht gut mit mir meinten. Ich komme aus einer Familie von Tagelöhnern. Der Vater musste wenigsten nicht unter Tage. Die Mutter war zu Hause, die Arbeit am Webstuhl war Knochenarbeit. Am schlimmsten, wenn sie bis tief in der Nacht die Quote schaffen musste. Wir waren fünf Kinder - drei Geschwister starben sehr jung an der Lungenkrankheit, die als Gespenst über uns allen schwebte. Nach der Schule half ich der Mutter im Haushalt. Kochen, Waschen, Kartoffeln auf den Feldern, Anstehen, Schimpfen, Hauen, Kirchgang, Schicksal, Sterben. Die Mutter ganz plötzlich. Sie war schon lange schwach. Der Vater schaffte es nicht allein. Geld war immer knapp. So vergingen die Jahre. Die Kinder waren bald alle aus dem Haus. Ich blieb beim Vater und wurde mit ihm älter. An eine eigene Familie dachte ich nicht mehr. Der Vater alterte früh. Wir hatten es am Ende gut miteinander. Bis er starb. So war das einfach.  
 
Und dann diese Hochzeitsfeier, an der alles anders werden sollte. Er hat mich nicht einmal zum Tanz aufgefordert. Um Kinder sollte ich mir keine Sorgen machen. Das wäre sowieso schon vorbei. Mit der Gisela, der zweiten Tochter der Anna, hatte ich es gut. Sie war eher ein scheues Kind und stellt keine grossen Ansprüchen. Anders als die Hanna. Sie war die Prinzessin im Haus. Sie konnte den Joseph um die Finger wickeln. Später kam die Hanna immer ganz stolz in ihrer Uniform der Jungmädels. Heil Hitler, was anderes hatte sie nicht mehr im Kopf. Joseph zeigte sich gerne mit seiner Enkeltochter bei den Aufzügen. Erich, der Verlobte der Martha wurde dann zu Beginn des Russlandfeldzugs eingezogen. Martha hatte es schwer, als sie keine Briefe mehr von Front erhielt. Trotzdem packte sie weiterhin Pakete mit Lebensmitteln und Süssigkeiten für ihn. Sie wollte es nicht wahrhaben, dass er als Vermisster nicht mehr wiederkommen würde. Mir ging es gesundheitlich immer schlechter. Es drückte auf meine Seele. Das Hurrageschrei war mir von Anfang an zuwider. 
 
Und dann. Die Hölle weitete sich immer mehr aus. Ich hoffe, du musst so etwas nie erleben müssen. Mein Lieber. Es ist so schön, Dich kennenzulernen. Erzähl‘ etwas dir.
 
Ida, es tut mir sehr leid, was du in Deinem Leben erleiden musstest und wie du dermassen unter die Räder gekommen bist. Deine Geschichte mit den Dinkelhammers kann ich jetzt sehr viel besser verstehen. Ja, sie gefällt mir! Ich kenne auch diese Schwere, ebenso schlimme Gewalt. Sie hat mich leer und bewusstlos gemacht. Das geflossene Blut und meine Tränen sind unsichtbar geblieben.Ich bin im Vergessen aufgewachsen. Im Land des Vergessens. Sie wollten die Gewalt, den Schrecken, den Krieg, die Schmerzen, den Abschied, die Schuld, die Opfer, die Täter, alle und alles dem Vergessen anheimstellen.
 
Mich haben sie vergessen. Im Niemandsland sind die Vergessenen ungeschützt und müssen permanent auf der Hut sein. Ich finde keine Ruhe. Die Bilder des Schreckens verfolgen mich. Ich kann sie nicht loslassen. So bin ich für die anderen eine Gefahr, denn sie wollen/können sich von meinen Geschichten nicht binden lassen. Vom Niemandsland suchen sie den Weg zu dem Ort, wo der Schrecken zwischen Anfang und Ende nicht mehr hinreicht. Zu diesem Ort möchte ich auch. Irgendwann kommen auch wir Vergessenen dort an.
 
Ida, Dein Erzählen ist mir kostbar.
 
An mein kleines Püppchen kann ich mich gut erinnern. Ein kleines Wollknäuel an einem hölzernen Stil. Erna, so hatte ich sie genannt. Erna war meine treue Gefährtin. Sie hat mich wieder zum Lachen bringen können, wenn ich traurig war oder mir weh getan habe. Erna hat ihren Kopf hin und her bewegt und manchmal habe ich sehen können, wie sie ihre Augen ganz gross machen konnte. Sie konnte mir auch sagen, wenn ich mal besonders aufpassen musste. „Irmchen pass auf, da kommt gerade der Bauer vom Feld. Er hat schlechte Laune und jagt die kleinen Kinder von der Strasse.“ 
 
In einer Schachtel mit meinen Zeugnissen und anderen Dokumenten hat es einen Plastiklaster, der mich an meine frühe Kindheit erinnert. Die Geschichte, die ich mit dem Laster verbinde, ist eine der ganz wenigen Erinnerungen, die mir aus dieser Zeit präsent ist. Es muss  kurz vor meiner Einschulung gewesen sein. Mit den Eltern war ich alleine unterwegs. In einem Schreibgeschäft waren Spielzeugautos ausgestellt. Ich war verrückt nach Autos.  Mein grösster Wunsch war ein Auto aus Metall, wo man die Türen aufmachen konnte. Ich drängelte solange, bis die Eltern mit eines kauften. Ein kleinen blassroten Transporter aus Plastik. Da waren keine Türen zu öffnen. Als wir aus dem Schreibgeschäft waren, hat die Mutter mich sehr wütend zusammengestaucht. So etwas dürfe ich nie mehr machen. Vor den Leuten so ein Theater machen. Wir müssen sparen und hätten kein Geld für solche Sachen.
 
Mich macht die Geschichte traurig. An meine Kindheitsjahre kann ich mich gut erinnern. Die Eltern waren froh, wenn sie uns Kinder satt kriegen konnten. Es fehlte an allem. Die Kleider wurden von Kind zu Kind weitergetragen und geflickt, bis sie auseinanderflogen. Im Winter war es bitterkalt und so blieben wir die meiste Zeit zu Hause in der kleinen dunklen Stube mit dem Kohleofen in der Ecke. Von uns Kindern war immer eines krank und lag am Tag auf dem Bett der Eltern. In der Nacht mussten wir zwei Matratzen für uns Kinder ausrollen. Zu dritt lagen wir unter der Decke und wärmten uns gegenseitig. Paula, die Älteste von uns, erzählte uns dann manchmal Geschichten. Ich weiss noch, wie wir dann immer enger zusammenrutschten.
 
Die Geschwister waren für mich die Hölle. Die abrufbaren Erinnerungen beginnen erst sehr spät. Da war ich vielleicht dreizehn. Ab da könnte ich reihenweise Geschichten erzählen, wie sie mich erniedrigt und gequält haben. Ausgelacht haben sie mich, wenn sie mich besonders schlimm gedemütigt hatten. Doch ich habe sie vergöttert. In Therapiestunden sind dann auch Bilder aus früher Kindheit aufgestiegen. Am Schlimmsten waren die Schwester und der Bruder, der nach Michael kam. Sie haben mich physisch und psychisch in sadistischer Manier gequält. Ihre abgründige Verachtung bringen sie bis heute zum Ausdruck. 
 
Hallo Ihr Beiden, Vergessen ist mit Gewalt gekoppelt. Schön, wie du dich, Ida, ohne inneren Groll an deine Geschwister und Eltern erinnern kannst. Mich berührt die Szene, wie ihr in den Nächten zusammenrückten und euch mit kleinen Geschichten getröstet habt. Und wie du beim Vater geblieben bist und ihn im Sterben begleitet hast. Mit meinem Vergessen fing ein grosses Unheil in unserer Familie an. Thomas, musste mich als mein Nachfolger ersetzen. Sein zweiter Vornamen, der des Vaters, wurde ihm von mir übertragen. Armselig. Schlimm, wie mit jedem Vergessen die Gewalt und der Schrecken grösser wird. Nicht nur mathematisch, sondern als bleibende Vollzugsverfügung. Weitergereicht an die nächste und die nächsten Generationen. 
 
Michael, gut, dass du dich einschaltest. Ich erzähle euch, wie es mit Joseph weiterging. Nach aussen hat er den Ehrenmann gespielt, doch wehe, wenn ich allein mit ihm war. Die anderen Frauen haben es nicht mehr aushalten können mit ihm. Er konnte grausam und äusserst gewalttätig werden. Das konnte ich keinem sagen. An wen hätte ich mich denn wenden sollen? Der Priester wollte es allen Recht machen. Vor allem bei den gut Situierten. Und zu diesen wollte Joseph unbedingt gehören. Ich kann nichts Gutes über Euren Urgrossvater sagen. Das tut mir sehr leid. 
 
Ida, Michael, mir geht es gerade gar nicht gut. Ich werde sehr müde. Am liebsten würde ich mich ins Bett legen und die Decke über meinen Kopf ziehen. Die Gewalt bei uns in der Familie spüre ich bis in meine kleine Zehe. Gewalt hat jeden und alles in unserer Familie ergriffen. Täter:innen, die sich abwechseln. Opfer, die als Geopferte zu Täter:innen werden. Ich spüre die Ohnmacht, die sich als Müdigkeit über alles Bewusstwerden legt. 
 
Am Schlimmsten diese Sinnlosigkeit. Warum? Ich wollte doch nur leben und es ein wenig gut haben. Dem Joseph wollte ich eine gute Ehefrau sein. Die Mädchen hätte ich gerne als Grossmutter verwöhnt. Doch es ging nicht. Ich habe mich regelrecht vor ihnen versteckt, wenn sie zu Besuch in den Ferien kamen. Nur noch ein tauber Schmerz, der mich am Leben hielt. Ich bin froh, dass ich dir das sagen kann. Es muss ein Ende haben damit. Der Krieg hat dann alles noch viel schlimmer gemacht. Die Millionen Menschen, die ihr Leben lassen mussten. Ich habe von Politik nicht viel verstanden, doch mir war das Heldengeprahle zuwider. Am Ende vom Krieg die gerechte Strafe. Nein, ich weiss nicht. Jede Gewalt ist grausam. Am Morgen ist ein Gruppe betrunkener Polen ins Haus gestürmt. Den Josef haben sie im Bett erschlagen. Ich habe es mitansehen müssen. Was sie mit Martha gemacht haben, weiss ich nicht. Gar nichts weiss ich. Alles weg. Alles taub. Müde bin ich in einer anderen Welt aufgewacht. Im Niemandsland. Kein Geschrei, kein Lachen, ohne Gefühle. Keine Angst. Keine Hoffnung. Keine Erinnerung. Ohne Namen. Bis du mich gerufen hast.
 
Jetzt bin ich wieder wach. Aufgewacht aus dieser trägen Müde. Wenn wir es schaffen könnten, die Glocke des Vergessens zu heben. Wenn uns ein waches Sehen und aufmerksames Hören gelingen könnte. Ich brauche jetzt eine Pause und werde mich bald wieder melden.
 
Ida, Michael, ich schlafe immer schlechter. Ich wache meistens nach drei Stunden auf, bin dann hellwach, hoffe, es wäre schon Morgen und die Nacht zu Ende. Oft ist mir übel, Tagtraum-schlaufen, Körperspannung, die mich nicht in Ruhe lässt. Heute Morgen habe ich befürchtet, wir könnten dem Joseph Unrecht tun. Vielleicht war er gar nicht gewalttätig? Ich kenne Euch beide doch gar nicht. Vielleicht hast Du mir etwas erzählt, was ich gerade hören wollte. Der Urgrossvater ein frauenverachtender Lustmolch. Dann hätte ich zumindest eine vorzeigbare Tätergeschichte.
 
Matthias, Du du bist sehr sensibel und hast gemerkt, wie unruhig ich wurde, als du das jetzt sagtest. Der Joseph war böse mit mir. Das kannst du mir glauben. Dein Urgrossvater hatte keine Hemmungen, mich zu schlagen und über mich zu kommen. Du kennst das Foto, das ihn mit Zylinder und Sonntagsmantel zeigt. Ein Aufschneider war er. Ein Lebemann wollte er sein. Ich weiss, wo er überall das Geld ausgegeben hat. Mein Haushaltsgeld reichte vorne und hinten nicht. Natürlich war er auch in der Partei. Das waren ja die meisten. Der Paul, mein Neffe, der Vater von Hanna, war auch drin. Die Anna sowieso. Wie sie stolz waren, Hanna in Uniform zu sehen. Es waren grausame Zeiten. Im  November 38 waren keine Juden mehr in Neurode, doch was in Waldenburg passierte, war wirklich schlimm. Auf den Marktplatz wurden sie getrieben. Bis auf die Unterwäsche mussten sie sich ausziehen. Und hier in Neurode haben sie sich über die Geschichten lustig gemacht.
 
Ida, ich glaube dir. Unbedingt. Und doch kann ich dich kaum mehr spüren. Du bist sehr weit weg. In mir verdunkelt es sich alles. 
 
Du hast dir wohl ein bisschen zu viel zugemutet. Ist wohl eine Nummer zu gross für dich? Schade, ich hatte grosse Freude, als du mich gerufen hast. Bei meinem Namen. Joseph  hat mich nur „Frau“ genannt. Für die anderen war ich die Bedienstete. Mich haben sie ganz schnell vergessen. Ich konnte nicht vergessen. Auch jetzt nicht im Niemandsland. Was sie mir angetan haben, trage ich mit/in mir. Ich sollte mich auf die Suche nach Michael machen. Vielleicht finde ich ihn hier bei uns. 
 
Ida, ich komme tatsächlich nicht nach. Eine kalte Leere breitet sich aus. Aufgeben. Resignieren. Kapitulieren. Verdammter Mist. Ich mag nicht mehr. Und Michael hält es auch nicht aus. 
 
Ich bin da. Ich höre zu. Ich schmerze mit euch beiden.
 
Erzählen geht nicht. Die Geschichten sind verschlossen. Wir müssen andere Wege suchen.Michael, lass uns gemeinsam Ida bitten, dass sie uns als ihre Urenkel segnet. 
 
Lasst uns die Halbinsel Selch umrunden. 
Unsere Haare wehen im Ostwind.
Unsere Glieder erheben sich.
Baal zerstöre die ungläubigen Seelen.
 
Wir können uns nicht viel erzählen. Trotzdem sind wir in Beziehung. Es reicht, wenn ich dich rufen höre: „Ida, hey, hörst du mich? Ida, was meinst du dazu? Ida, schön, dass ich dich gefunden habe.“
 
Du hast dich gefreut, als ich dich das erste Mal angesprochen/gerufen habe. Mir ist hängengeblieben, wie vergeblich lange du auf einen Kontakt aus der Familie gewartet hast. Ich lese momentan das Buch „Windstärke 17“  der jungen Autorin Caroline Wahl, die ihrer Protagonist und Hauptfigur den Namen „Ida“ übertragen hat. Ida, eine junge Studentin der Literaturwissenschaft ist traumatisiert durch den Tod ihrer Mutter. Stop. Ich mag keine Zusammenfassungen schreiben. Ich bin dauernd am Heulen. Die Mutter war Alkoholikern und starb durch eine Überdosis Tabletten. Stop. Ich müsste dir das ganze Buch nacherzählen. Das will ich nicht. Es berührt mich zutiefst, zu lesen, wie Ida zerrissen ist von ihren Schuld-gefühlen, zu wenig für die Mutter getan zu haben und ihrer Überforderung seit frühster Kindheit Verantwortung für die Mutter tragen zu müssen. Vor zwei Monaten ist die Mutter gestorben. Stop. Sie landet ohne Plan an der Ostsee in einem kleinen Dorf auf Rügen. Marianne und Knut, ein älteres Ehepaar nimmt sie bei sich auf. Kitsch hoch drei, doch  gut geschrieben. Verliebt sich in Leif. Erzählt, wie ihre Mama gestorben ist, wie sie mehr für die Mama hätte machen müssen, wie sie ihre Mama nicht mehr aushalten konnte, wie die Mama ihr in den Nächten erscheint. Schwimmt mehrmals zu weit in die Ostsee hinaus. Hat Angst, enttäuscht zu werden. Stop. Eruptiv bricht es aus mir heraus. Eine oszillierende Spannung, die sich aufbaut. Ida in ihren Abgründen. Ida in ihren Sehnsüchten. Begegnungen, Berührungen, Erlaubnisse und noch mehr Kitsch. Marianne, die eine Chemotherapie anfängt. Ida, Ersatztochter für eine andere. Das Ende muss ich noch lesen. Mich berührt diese Soap Opera. 
 
Lieber Matthias, ich habe dir gut zugehört. Ich sehe, wie lange du schon an den Abgründen taumelst. Gefährlich. Wir Vergessenen sind im Niemandsland sicher. Taub und stumm, doch wir sind geschützt. Im Land der Lebenden ist es anders. Es hat dich zerrissen wieder und immer wieder. Du konntest nlcht verstehen, was mit dir geschah. Du hattest kein Empfingen was du mit anderen gemacht hast. Deine Sehnsucht war immer die eines Getriebenen.
 
Liebe Ugrossmutter Ida, welch ein Zufall, dass ich diese andere Ida im Buch angetroffen habe. Ich weiss nicht, was ich von den vielen Tränen, die ich beim Lesen vergossen habe, zu halten habe. Diese Rührseligkeit mag ich überhaupt nicht mehr. Sie erinnert mich an meinen Vater und sein klebriges Selbstmitleid, wenn er getrunken hatte. Alkohol machte ihn nicht aggressiv, sondern versetzte ihn in ein bedürftiges Kleinkind. Ekelerregend! Ich habe mir sehr fest vorgenommen, dass ich meinen eigenen Kindern solche Szenen nicht zumuten will. Wenn ein Vater zum bedürftigen Kleinkind mutiert, kann dass für die Kinder nicht gut sein. Scheisse. Auch meiner Partnerin will ich das nicht zumuten. Habe ich lange genug gemacht. Und wenn ich es allein erlebe? Meine Bedürftigkeit nach oben dringt mit meinen korrumpierten Persönlichkeitsanteile? Wenn ich merke, wie feige ich bin. Ein Weichei. Und mich darüber ärgere, wenn ich andere als solche beschimpfe. Wenn ich mich zum Kotzen fühle. Und lese, wie eine junge Frau darüber schreibt, eine Protagonistin erfindet und mit ihr aushält, sich zum Kotzen zu fühlen. Dann muss ich heulen. Ich will stark sein. Nein, ich will in allen meinen Irrungen zu Bewusstsein kommen. Das ist! Nicht nur dahintreiben und warten bis es vorbei ist, sondern irgendwie aufwachen. Ich habe die Ahnung, dass wir Vergessenen unseres Bewusstseins beraubt wurden. Das ist das Schlimmste, was mit einem geschehen kann. Als ob grosse, wichtige, lebensnotwendige Stücke des menschlichen Antlitzes abfallen.
 
Ich merke, wie auch in mir etwas passiert. Tränen kann ich nicht mehr vergiessen. Die habe ich mit dem Ende meiner leiblichen Inkarnation verloren. Doch in deinem Rufen passiert etwas mir mit. Hier im Niemandsland muss niemand Schmerz erleiden. Doch wir Vergessenen sind noch nicht an dem Anderen teilhaftig. In deinem Leben warst du bisher als Vergessener ein Getriebener im Angesicht sinnloser Leere. Ich kann das neue Leben nicht beginnen, weil die Zeit der Erinnerung noch nicht getilgt ist. Ich bin noch erreichbar, das merke ich, wenn Du mich rufst. Viele andere könnten mich noch erreichen. Sie müssten mich gar nich bei meinem Namen nennen, wie du das mein lieber Matthias tust. Sie bräuchten nur fragen, wo ich, wo wir, geblieben sind. Wo wir begraben sind. Wie wir den Übergang gefunden haben. Wie es uns erging, als wir den letzten Atemzug taten. Wie schlimm es war, ohne die Tränen unserer Lieben auskommen zu müssen. Wie sie alle auf einmal fort waren. Und es kalt in unseren Gräbern wurde. Langsam finde ich die Spur. 
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2. Teil
 
Liebe Ida, seit Tagen habe ich dir nicht geantwortet. Schade. Wenn ich deine letzten Zeilen lese, bin ich erstaunt, wie gut ich dich verstehe. Es kommt mir überhaupt nicht fremd vor, was du mir mitteilst. Ja, so fühle ich mich oft, als ein Vergessener, der im Angesicht sinnloser Leere getrieben ist - herumtreibt. Das fühlt sich nicht gut an. Im Moment merke ich es gar nicht. Bin mir meiner nicht bewusst. Meistens. Erst mit grossem Abstand. In Reflexion mit einem Gegenüber gelingt es manchmal. 
 
Lieber Matthias, du bist dir selber nicht bewusst. Das muss schwierig für dich sein. Du machst Kunst. Du schreibst, singst, bist als Contact-Clown unterwegs. Vater, Ehemann und so vieles mehr. Das scheint vor mir auf, wenn du dich mir öffnest. Hey. Du. Ich hatte es nicht einfach im Leben. Nichts da mit Hausdame und all den Träumereien. Ich habe viel gearbeitet. Manche Tage waren so schwer, dass ich fast im Stehen eingeschlafen bin. So erschöpft war ich von der Hausarbeit und als Dienstmädchen für alle und jeden verfügbar. Die Ida macht das. Die Ida ist eine Fleissige. Die Ida kann gut mit den Kindern. Die Ida ist sich für keine Arbeit zu schade. Ich hätte gerne im Kirchenchor gesungen, doch ich musste mich am Abend noch manche Stunden an den Webstuhl setzen oder die Wäsche waschen, wenn ich es am Tag nicht geschafft habe. Ich habe oft gedacht, dass ich die viele Arbeit nicht mehr schaffe, doch was blieb mir übrig. Doch ich bin mir nicht verloren gegangen. Sie haben über mich bestimmt. Ich habe nicht rebelliert. Brechen liess ich mich nicht. In mir war ich stark. Sehr stark, das kannst du mir glauben. Du bist auch stark. Anders. Du hast nicht aufgegeben, das ist deine grosse Kraft. 
 
Ich habe grossen Respekt, wie du deine schwere Last getragen hast. Und dich dabei nicht vergessen hast. Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Es graust mich. Mir vorstellen, immer die Arbeit, der strenge Tagesablauf, die schmerzenden Glieder, die Erschöpfung, tagein, tagaus - ich könnte, wollte dies nicht. 
 
Und ich hätte nicht nicht schon lebend eine Vergessene sein wollen. Dann lieber arbeiten und krampfen. Es muss sich fürchterlich anfühlen, wenn Nichts mehr da ist. Nichts. Nada. Nein, das hätte ich nicht aushalten wollen.
 
Es macht mir grossen Eindruck, wie du an der harten Arbeit und den dunklen Tagen nicht zerbrochen bist. Ich freue mich sehr, dich gefunden zu haben. 
 
Das geht nicht einfach so und von alleine. Der Vater und die Kleinen haben mich gebraucht. Ohne Mutter wären sie verloren gewesen. Der Joseph hat mich missbraucht. Ich kenne den Unterschied.
 
Der Urgrossvater Joseph. Es muss schlimm gewesen sein. Irgendwie fühle ich mich fast  mitschuldig. Ich trage als Sohn, Enkel, Urenkel eine Mitverantwortung.
 
Nein, das stimmt nicht. 
 
Der Grad zwischen Brauchen und Missbrauchen ist sehr schmal.

Mein Liebe ist noch nicht gestorben. Ich weiss, du magst das Wort „Liebe“ nicht. Ist dir zu gross. Wir Vergessenen können nicht anders. Wir haben genug Schlechtes erlebt. Gesehen, wozu Menschen fähig sind. Wer will nicht gut sein. Doch es braucht so wenig und es kehrt sich. Wir können nur lieben. Alleine können wir nicht lieben. Wir brauchen euch. Ich brauche dich. Da fängt Liebe an. So, wie auch dein Sohn von Dir gesehen, gehört und geliebt werden will.
 
Ich weiss, wie schlimm es sich anfühlt, nicht gesehen zu werden. Sie wollen immer noch nicht sehen, hören, riechen, tasten, schmecken, glauben, was mir als Kind angetan wurde. Das macht mich einsam. Nimmt mir mein Selbst. Treibt mich in die Leere. Nimmt mir die Liebe.
 
Als junge Frau war ich sehr hübsch. 

Wieso sagst du mir das?

Jede Frau will schön sein. Ich bin nicht oft Tanzen gegangen. Die Männer haben sich nach mir umgedreht. Das habe ich geniessen können. Es gab einen, der hat um mich geworben. Das war der Heinz aus dem Nachbarort. Also, ich war kein hässliches Entlein, wie du heimlich denkst.
 
Ida, ich hätte Lust, dich zu einem Tanz aufzufordern. 
 
mach‘ das. Ich führe dich.
 
ich singe dazu und schenke dir mein schönstes Lächeln
 
dann gönnen wir uns Kaffee und Kuchen
 
wir stossen mit einem Glas Sekt auf das Leben an.

L‘chaim.

 

3. Kapitel

 

Ihr seid gegenwärtig. Was ich mit euch erlebe ist ein Anhauch, der alle Worte übersteigt. 

 

Das Trennende und die Fremden verbinden uns mit dem Leben, das über alle Sinne und jede Sinnhaftigkeit weist. Eine helle Sonne.

 

Dunkel und leere Taubheit. Sie haben mir als Kind sehr weh getan.

 

Ich würde gerne mit dir lachen. Ein Witz erzählen. Kitzeln. Schau‘ mich an. 

 

Urgrossmutter. 

 

Urgrossenkel

 

Bonanza

 

Wir sind in Resonanz - in einer gemeinsamen Schwingung. Leider sind es meist nur Mikromomente, in denen ich so etwas wie Verbundenheit spüre.

 

Du sehnst Dich nach Nähe, Verbindlichkeit, Geborgenheit, Liebe. Viel zu viel von allem. Das hält kein Gegenüber aus - du auch nicht. Du kannst die trennende Bruchlinie nicht durch Nähe überwinden.

 

Woher weisst du das alles? Meine Rührseligkeit, wenn mir die Narrative von Menschen entgegen kommen, die vom Schicksal schwer geschlagen sind und ihr Eigenes nicht preisgeben haben. Das waren wirklich sehr viel Tränen in den letzten Wochen.

 

Deine Stärke und Dein Eigenes leben! Da bin ich gegenwärtig und unterstütze dich mit urmütterlichen Instinkten. Ich war stark, auch wenn sie meinten, die Ida überall hinschubsen zu können. Ich habe mich nicht brechen lassen. Habe mir meine Träume bewahrt. Der Joseph hätte es zwar fast geschafft, mir das Kostbarste, was ich besessen habe, zu rauben. Doch ich hatte Mut, mich zu wehren. Nur einmal ist er über mich hergefallen. Das nächste Mal wäre ich fortgegangen. Er hat es nicht darauf ankommen lassen.

 

Ich fühle mich lebendig, wenn ich mutig bin und etwas wage. Dann erschrecke ich und will mich am liebsten verstecken.

 

Deine Frau gefällt mir.

 

 

4. Kapitel

 

 

"Warum der Barbar aus dem Westen keinen Bart trägt“. Unser menschliches Wesen ist nicht getrennt von unserer körperlichen Wirklichkeit im Hier und Jetzt. Wir brauchen es nicht an verborgenen Orten zu suchen und es muss nicht gelöst und befreit werden aus den Fängen unsere Wirklichkeit. Wir sind eingeladen, uns ganz und körperlich auf unser Sein in dieser Wirklichkeit einzulassen. Mit dem Atem, mit den Resonanzen im Bauch, Kopf, Brust, den kleinsten Gefässen und unseren Sinnen, die uns verbinden mit der Aussenwelt. So können wir auch im Vogelzwitschern unserem Wesen gewahr werden. Heute morgen habe Stefan im Dokusan von dir erzählt. Wie ich mich mit dir verbunden weiss. Dass du in mir gegenwärtig bist - in allem, was in mir als Wesenskraft angelegt ist. Wie wir gemeinsam mit Michael aus dem Vergessen treten. Wir mussten laut lachen, als ich erzählte, wie  Du mich in meinem Kampf gegen die Verbrecherband unterstützt. „Ja, dann muss es stimmen.“ Wir  mussten beide laut lachen.

 

Soll ich Michael rufen?

 

Dringend

 

Hey Hey, Michael, wir brauchen dich.

 

Hey Hey,, wird langsam Zeit, dass du dich meldest.

 

Ich habe dich sehr vernachlässig. Es stimmt, ich habe dich schon lange nicht mehr gerufen. Wenn ich in Leipzig am Morgen auf dem Kissen sitze,  hängt an der Wand rechts von mir die grosse Reproduktion des kleines Bildes, auf dem du als Säugling mit der  Mutter zu sehen bist. Ich verbeuge  mich vor euch beiden und denke an euch. Ich wollte immer frische Blumen vor das Bild stellen. Das habe  ich nicht mehr gemacht. Schade. Michael. Lass uns gemeinsam mit Ida, unserer Urgrossmutter, auf dem Weg sein.

 

Schön, dass du mich nicht vergessen hast. Mit Ida muss ich mich noch anfreunden. Hier bei uns im Niemandsland gehen wir uns alle aus dem Weg. Es gibt bei uns keine Freundschaften. Wir sind einander jedoch nicht feindlich gesinnt. Wir warten. Immer warten, warten, warten. Irgendwann werden wir aus diesem Zwischenzustand gelöst. Wir leiden nicht. Wir hoffen nicht einmal. Wir erwarten auch nichts. Wir sind da. Für euch! Für dich!

 

Der Kontakt mit dir macht mich lebendig. Das habe ich gemerkt. So geht es mir auch mit der Ida. Und trotzdem vergesse/vernachlässige ich euch immer wieder.

 

Du würdest es nicht lange aushalten. st du deinen Platz. Vorhin beim Laufen hattest du einen sehr passenden Gedanken. Du kommst zu uns. In unser Sein. Ins Niemandland. Nur wenige wagen den Schritt zu uns,. Sie haben Angst, sie könnten hier verlorengehen. Sie fürchten sich vor dem Sterben, vor dem Tod. Du bist gerade in einem Sesshin und übst dich Schweigen. Erleuchtung, nichts Spektakuläres.

 

Dein Bruder kann sich gut ausdrücken. Schön, was er sagt. Du braucht wirklich keine Angst zu haben. Du lernst von uns. Das reicht fürs Erste. Für uns bist du nicht vergessen.

 

Ein bisschen viel.Ich höre auch einen gewissen esoterischen Touch. Den mag ich überhaupt nicht. Damit könnt ihr mich jagen. Ihr tut mir gut. Das spüre ich. Gerne lasse ich mich von euch ermutigen.

 

Form ist Leere, Leere Form - das Teisho gestern am Abend hast du stimmig verstehen können. Dieses Oszillieren zwischen Form und Leere. En Bewegen zwischen den Begriffen, Unterscheidungen, Wertungen,  Anhaftungen und Anziehungen und dem Sein ohne Formbestimmtheit. Es gibt nichts abzuwerten, klein zu machen oder an Grösse zu bewundern. „Es ist so, wie es ist.“ Und es ist bleibende Aufgabe, Leiden in diesem Sein nicht zu vergrössern, sondern zu lindern, wo es möglich ist. Das kannst du bei uns lernen, einfach, klar und wirkkräftig. 

 

Mehr zu wissen ist nicht nötig. 

 

Nicht zu viel darüber reden. Matthias ist auf einer guten Spur. Es bringt nichts, wenn wir uns über Konzepte austauschen. Kehren wir zu unseren Geschichten zurück.

 

Geschichten, die wir neu erzählen können. 

 

In drei Wochen werde ich mit  Franziska nach Neurode (Nowa Ruda) fahren. Vor 20 Jahren Jahren waren wir schon einmal bei euch. Waren sogar in eurem Haus. Spazierten über den Marktplatz. Wie soll das gehen, Geschichten neu erzählen?

 

 

Wie können wir dir helfen? Ich erzähle dir die Geschichte von Martha und Erich.

 

Ich mag jetzt keine Geschichte hören. Ich will nur schlafen. 

 

Wir müssen ihn in Ruhe lassen.

 

Dann erzähle ich eine Gutenachtgeschichte.

 

Es war einmal ein Drachen, der lebte in einer finsteren Höhle. Heribert tauften ihn die Dorfbewohner. Morgens wusch er sich unter einem Wasserfall. Am Abend verspeiste er eine Zuckerrübe. Er ass kein Fleisch und verkaufte jeden Monat seine Häkelarbeiten auf dem Wochenmarkt. Die Nachbarn tuschelten über ihn. Das machte ihn sehr wütend. Er mochte nicht, dass die Leute schlecht über ihn sprachen. Er verliebte sich regelmässig in seine alten Schulfreundinnen, in ein heiseres Käuzchen, eine springende Forelle, einen hüpfenden Esel, eine hundsgemeine Wanderratte oder einen gutaussehenden Cowboy. Heribert war ein lieber Drachen. Im Bioladen kaufte er ab und zu Fleischersatz. Seine Häkeldecken waren ringsum begehrt. Er sparte seit vielen Jahren auf eine grosse Hochzeit. Kurz vor Fünf am Nachmittag wurde er meistens traurig. Dann trat er aus seiner Höhle und fing bitterlich zu weinen an. Nur Carlo konnte ihn trösten. Carlo war ein Meister im Ohrenkraulen.

 

Bitte noch eine Geschichte.

 

Jetzt bin ich dran. Peggy ist eine kleine Quietschmaus, die im Hinterwald bei der ersten Abfahrt Richtung Dietzling wohnt. Ihre Eltern sind von Südafrika vor 20 Jahren in den Hinterwald gekommen. Die Mutter ist schwarzhaarig, der Vater hat eine Glatze und Peggy liebt ihren runden Bauch. Geschwister gibt es keine. Die Eltern verdienen ihr Geld mit einem Streichelzoo. Die exotischen Exemplare schmuggelten sie mit einer Stretchlimosine in den Hinterwald. Peggy hat immer genug zu essen. Als Quietschmaus ist sie sehr genügsam. Ein freundliches Hallo reicht meistens aus. Wenn da nicht der böse Wolf wäre. Der ist scharf auf alle Mäuse. Sogar einer Wühlmaus jagt er hinterher. Und dann gibt es auch noch den Fahrkartenkondukteur. Der hat in seiner Umhängetasche ein Maschinengewehr. Sonst ist er relativ unauffällig. Peggy hat keine Angst vor ihm. Um Mitternacht stellt die Mutter mit ihren schwarzen Haaren einen süssen Kakao auf ihren Nachttisch. Der Vater will  auch einen Kakao, doch er bekommt keinen. Peggy ist eine liebe Quetschmaus. In ihr Poesiealbum hat sie das erste graue Haar der Mutter geklebt.

 

Luise war ein Sonntagskind. Leider hat sie das grosse Unwetter in der Steiermark nicht überlebt. Die Prügel der Mutter waren jedoch schlimmer. 

 

Mir wird übel. Ich mag keine Geschichten mehr. Sie machen mich traurig. 

 

Du bist undankbar.

 

Er ist sehr unfreundlich

 

Ida, Michael! Mit geht es nicht gut.

 

Ging es dir schon einmal gut? 

 

Willst du einen Termin beim Ohrenarzt? 

 

Ich bin müde! Verdammt noch mal, versteht ihr das nicht?

 

Ok, dann erzählen wir uns nun eine gemeinsame Geschichte.
 

 

 

5. Kapitel

 

 

Michael und Matthias wohnen seit drei Jahren bei ihrer Urgrossmutter Ida. Die beiden Jungs haben ihre Eltern bei einem Verkehrsunfall verloren. Michael ist fünf, Matthias sieben. Die Grosseltern sind mütterlich- und väterlichseits schon seit vielen Jahren gestorben. Sie waren Junkies. Gut, dass Ida keine Drogen nimmt. Beide lieben sie ihre Ida und sie liebt ihre beiden Urenkel. Die Fürsorge ist dankbar, denn sie ist billiger als ein Heim. Das ortsansässige Waisenhaus ist baufällig und muss nächstes Jahr renoviert werden. Soldaten bewachen das Haus. Am letzten Samstag bekamen sie Besuch vom Glöckner aus Paris. Er brachte viele Geschenke in einer ausgedienten Pferdekutsche mit. Erst haben sie Mensch ärgere dich nicht gespielt und dann blinde Kuh und Topfschlagen und Kartoffelsalat und Würstchen. Ida hat dem Glöckner ein Bier angeboten, doch er wollte nur ein stilles Wasser. Michael ist ein süsser Knopf. Matthias auch. Sie wollen am Sonntag Nachmittag immer die kleinen Strolche schauen. Ida sagt nie nein.  Manchmal fällt sie in Ohnmacht, denn sie ist sehr alt und schon lange  gestorben. Michael ist auch schon gestorben, doch ansonsten ist er putzmunter. Matthias ist noch nicht gestorben. Das macht ihm nichts aus, denn er spielt gerne im Dunkeln und kann viele Lieder auf der Ukulele begleiten. Ida liest viele Fachbücher. Manchmal lässt sie sich über Nacht in die Universitätsbibliothek einschliessen. Es gibt kaum ein Buch, das sie noch nicht in ihren Händen gehabt hat. Michael und Matthias sind stolz auf ihre kluge Urgrossoma. Niemand ist so klug wie sie. Nur rechnen kann sie nicht. Und mit der Rechtschreibung ist sie auch nicht befreundet. Matthias geht ganz nach der Ida. Michael hat einen osteuropäischen Einschlag. Das macht aber nichts, denn er versteht sich mit allen Menschen, egal woher sie kommen, was sie sind und was sie haben. Michael ist ein Goldschatz. Ida macht gerne Kunststücke. Sie wäre gerne Zirkusartistin geworden. Gestern hatte sie Besuch von einem Direktor, der sie engagieren wollte. Er wurde traurig, als sie ihm sagte, dass sie schon gestorben ist. 

 

Ida plant mit den beiden Buben eine ausgedehnte Ferienreise. Ida will unbedingt nach Kassel zum Alten Paul, die Jungs wollen an die Ostsee oder zum Sonnenaufgang in die Karibik. Ida fürchtet sich vor den Engelsmacherinnen in Sao Paulo, Michael möchte zum  Entertainertreffen nach Florida und Matthias will unbedingt in die Lüneburger Heide Monopoly Spielen. Ihre Mama hat immer PopCorn gekauft. Die Oma hat den besten Mohnkuchen gemacht und die scheiss Männer haben sich am Laufmeter besoffen. Ida sagt, die Mama hatte blauen Augen und ein Holzbein. Der Papa war ein Wehrmachtssoldat. An der Ostfront im Panzer ist er auf eine Miene gefahren. Der Grossvater war Sanitäter in Verdun. Die beiden Grossmütter machten Karriere im Fussballclub. Anna war Mittelstürmerin und Theresa eine knallharte Verteidigerin.

 

Die Jungs fragen, ob sie Ida abkitzeln, oder  in die Oder schmeissen sollen, oder am Pferdeschwanz ziehen. Sie haben Ida ganz fest lieb. Sie können sich ein Leben vor und nach dem Tod ohne sie nicht vorstellen. Sie sind ein tolles Team. Michael ist ein Sunnyboy und Matthias liebt reife Birnen. Sie singen miteinander, dann weinen sie und nehmen sich in die Arme und flüstern sich kleine Dinge ins Ohr. Ida sagt immer die schönsten Sachen.  „Ihr seid meine allerliebsten Schätze. Mit euch würde ich zwei Mal um die Welt reisen. Mit einer Rakete! Mit einem Mouseclick! Mit einer Überraschung am Ende. Bonbons regnen vom Himmel. Heidelbeeren. Ich will eine Glacé. Ich will. Ich auch.

 

Zeit für‘s ins Bettgehen. Heute muss es Zickzack gehen. Ida kriegt Besuch. Ida zieht sich nackig aus. Aufhören, Jungs. Finde ich überhaupt nicht lustig. Ida ist nicht lustig. Ida zieht sich nackig aus. Wenn ihr brav seid, dürft ihr mit dem Sandmännchen ein Deal machen. Verstehe ich nicht. Ida, wir verstehen das nicht. Was ist ein Deal? Das weiss ich auch nicht. Ist mir einfach so eingefallen. Willst du mit dem Sandmännchen einen Deal machen? Ida will mit dem Sandmännchen einen Deal machen. Ida, ich will auch, ich auch. Also gut, zieht euch Schuhe und Jacken an. Wir werden mit dem Sandmännchen einen Helikopterflug machen. Nein ich will nicht mit der Rakete fliegen! Wir fliegen hoch in den Himmel. Zu Mama? Ich will nicht in den Himmel! Ich will nur bei dir sein, Ida. Das Sandmännchen bringt uns an einen ganz schönen Platz. Ich will keinen schönen Platz. Ich will keinen schönen Mann. Ich mag keine Männer. Ihr seid meine Allerallerbesten. Heute wird gefeiert.

 

Mama. Am Nachmittag habe ich sie im Lidl getroffen. Sie ist eine grosse Frau. Sie hat braune Augen und ein Tattoo auf der Nase. Mama sieht doof aus. Ich mag keine Tattoos. Ich mag Salzstangen. Hat Mama eine rote Nase. Mama ist eine Clownin. Mama ist eine alte Frau. Mama hat einen Nasenring. Mama ist nicht meine Mama. Mama ist ein Schreckgespenst. Ida, kennst du unsere Mama? Mama habe ich mal gut gekannt. Gestern ist sie das erste Mal wieder von den Toten auferstanden. Ist die Mama der liebe Gott? Fast noch mehr. Hast du Angst vor unserer Mama. Ich habe vor allen grossen Menschen Angst. Ich auch. Wenn ich gross bin, werde ich dich beschützen, Ida. Ich habe auch Angst vor grossen Menschen. Soll ich dich beschützen? Papa war ein tapferer Soldat. Nein, er war ein strohdummer Mann. Grossvater war General. Nein, er war ein bissiger Dackel. Urgrossvater war ein Präsident. Er hat mich geschlagen. Wenn ich gross bin, kriegt er Haue. Hört auf Kinder. So viel Krieg, ich will davon nichts mehr hören.

 

Im Hochsommer gibt es viele Wespen. Und Bienen. Und Regenwürmer. Knallfrösche. Wasserbomben. Hauswein. Pizza. Schokoladeneis. Ida, wollen wir bei der Autorally mitmachen? Ich bin der Copiliot. Ich bin ein guter Kartenleser. Ich habe keinen Führerschein. Brauchst du nicht. Ich gebe dir meinen. Kann ich auf deinem Schoss sitzen? Hoppe Hoppe Reiter. Morgen kommt der Schornsteinfeger. Er bringt uns Glück. Und Dreck ins Haus.

6. Kapitel

 

 

Ida, Michael! Ich kann mich nicht aushalten.

 

Joseph, dein Urgrossvater machte sich keine Gedanken, wie es mir und den anderen Menschen um ihn herum ging. Wie ein Präsident kam er daher - dabei war er ein Schwächling. In der Schreinerei hat er kaum noch gearbeitet. Erich, Marthas Mann, musste den Laden schmeissen. Joseph litt an permanenter Magenverstimmung. Wenn er rief, sollte ich wie ein Hündchen folgen. Irgendwann hörte er auf zu rufen. Er merkte, dass ich stärker war.

 

Unsere Mutter war nicht stark genug. Vielleicht wäre es anders gekommen, wenn ich nicht gestorben wäre. Der Vater froh war, als ich nicht mehr da war. Er wollte sie alleine besitzen. Ich verstehe die Zusammenhänge noch nicht. Vielleicht hat er der Mutter die Schuld für meinen Tod gegeben. 

 

Dein Bruder hat ein gutes Gespür. Mit dem Joseph hätte es weitaus schlimmer ausgehen können. Ich weiss nicht, wie es herausgekommen wäre, wenn wir gemeinsame Kinder gehabt hätten. Er war dermassen herrisch, dass ich es nicht geschafft hätte, mich schützend vor die Kinder zu stellen. Das hätte mir mein Herz gebrochen. Mit deiner Mutter bist du noch nicht fertig. Auch sie konnte dir keine gute Mutter sein. Ich bin gespannt, was Michael dazu sagt.

 

In den letzten Wochen ihres Lebens erhoffte unsere Mutter mit grosser Sehnsucht ein Wiedersehen. Ich habe ihr Sterben zur Kenntnis genommen. Es hat mich nicht berühren können. Sie hat mich nicht gerufen, sie wollte mich ergreifen. Ida hat vom Niemandsland gesprochen, in dem wir Vergessenen harren. Wir sind losgelöst von unserer Herkunft und unserer Geschichte. Mit den Gestorbenen sind wir in keinem persönlichen Kontakt. Den gibt es unter uns nicht. Nur mit den Lebenden sind wir noch verbunden. Wenn wir gerufen werden, können wir in Kontakt mit Euch treten. Warum das so ist, weiss ich nicht. Hier im Niemandsland sind die persönlichen Banden gelöst. Das finde ich gut. Da gibt es kein Leiden, kein Sehnen, keine Wehmut und kein Hass. Wenn ich mit dir nun im Kontakt bin, erahne ich nur noch eure Gefühlswelt. Es wird wohl einen Sinn haben, dass wir im Austausch sein können. Ich merke, wie es mir überhaupt nicht egal ist, wie es dir geht. Mir liegt viel daran, dass du aus deiner Enge und Spannung findest. Die Mutter ist vor bald 20 Jahren gestorben. Ich habe noch keine Idee, wie du dich aus ihrer Umklammerung lösen kannst. Nein, du bist es, der sich an sie klammert. Sie kann dich nicht mehr festhalten. Sie hat es auch vorher nicht getan. Denk mal an deine eigenen Kinder. An alle vier. Du liebst sie und möchtest, dass es ihnen gut geht. Und wenn es sich ergibt, dass gesättigte Begegnungen zwischen euch stattfinden, kannst du es geniessen. Wenn du weisst, dass es ihnen nicht gut geht, empfindest du es als Störung. Doch grundsätzlich ist dein Leben nicht auf sie ausgerichtet. Das ist gut so. So ist es der Mutter auch ergangen. So wichtig, wie du meinst, bist du ihr nie gewesen. Sie hat es sogar geschafft, mich die längste Zeit ihres Lebens zu vergessen. Erst in den letzten Wochen hat sie mich gerufen. Da war es zu spät. Wir konnten unseren möglichen Spielraum nicht nutzen. Sie hat mich vergessen. Das heisst nicht, es wäre ihr dabei gut gegangen. Ganz bestimmt nicht. Wie sie auch dich und die anderen Kinder vergessen konnte. Wir waren nur auf einem Nebenschauplatz präsent. 

 

Im Vergessen reduziert sich das Spektrum der Beziehungsfähigkeit. Mit deinem Vergessen, Michael, verlor eure Mutter auch zu den nachkommenden Kindern ihre Beziehungsfähigkeit. Es fehlte ihr das nötige Sensorium. Sie hat alles gemacht, um eine gute Mutter zu sein. Sie hat euch umsorgt, gepflegt, bekocht und ihren Beruf als Familienfrau perfekt ausfüllen wollen. Doch sie konnte keine Beziehung zu euch aufbauen. Die Bewegung von ihr zu euch war gestört und meist ganz unterbrochen. Das hat sie sehr schmerzhaft gemerkt. Zu ihrem Mann, eurem Vater, hatte sie Zugang. Doch auch mit ihm war eine Beziehung auf gleicher Augenhöhe nicht möglich. In ihrem Vergessen wurde sie einsam und für andere unerreichbar. 

 

Im Vergessen werden grundlegende Fähigkeiten abgespalten. Ich habe sehr früh die Beziehung zu mir selbst verloren. Mit mir selber kann ich meist nichts anfangen. Elend leer fühlt es sich an. Die Vulva ist zu meinem Beziehungsraum geworden. Dorthin fliehe ich mich in meinen Phantasien. Erträume mir erfüllende Momente und einen Ausweg aus Sinnleere.

 

Die Vulva als Lebenstor. Erinnert mich an eine Skulptur, die du vor ein paar Jahren gestaltet hast.

 

Das geht  jetzt ein bisschen zu schnell. Ich komme nicht nach. Spüre aber, wie stimmig die Spur ist,  im Vergessen die Beziehungsfähigkeit zu verlieren. Für unsere Mutter war es tragisch, dass sie Michael dem Vergessen preisgeben musste. Sie hat die Beziehung zu all ihren Kinder verloren. Zu ihren Enkelkindern konnte sie später eine grossmütterliche Beziehung aufbauen. Ich kann immer noch nicht analytisch fassen, was mit mir passiert ist, mit meinem Vergessen der Gewalt, die an mir verübt wurde. Die Bilder, die Schmerzen, die Angst, Scham, Ekel, alles ist  kryptisch verwahrt, verschlüsselt und jedem Begreifen entzogen. Ich kann nicht sagen, was passiert ist. Was haben sie mit mir getan? Helft mir bitte!

 

Es gibt keine Worte, die beschreiben könnten, was du erlebt hast. Worte sind immer an einen Sinn gebunden. Was du erlebt hast, hat sich aufgelöst - ist luzide geworden-   gibt es nicht - darf es nicht geben - hat es nie gegeben - ist nie passiert - ist ein Gespenst - eine Einbildung - ein boshafter Gedanke - eine verbrecherische Anschuldigung.

 

Sie wollen, dass ich endlich einen Schlussstrich ziehe. Nach vorne schauen. Der soll endlich Ruhe  geben. Was sagt ihr?

 

Die Mutter, der Vater und die geballte Priestermacht. Sie müssen mir dir ganz schlimme Sachen gemacht haben. Ich weiss es nicht. Ich bin mir jedoch sicher und stimme dir bei. Ich bin eine deiner Urmütter. Du hast noch viele andere. Sie haben dich gehört, als du mich gerufen hast.

 

Hör‘ nicht auf zu rufen. Wir brauchen deine Stimme. In ihr finden wir Resonanz. Ich höre dich und in deiner Stimme höre ich auch mein Vergessen und weiss von all den Vergessenen, die gewaltsam um ihre Lebendigkeit geprellt wurden. Es gibt keine Beweise. Ich bin froh, dass du da bist. Dass du nicht aufgegeben hast.

 

Ich danke euch.

 

 

7. Kapitel

 

 

Es ist Zeit für ein neue Geschichte. Im Winter hat ein Bär einen Schluckauf gehabt. Er konnte nicht mehr aufhören. Die Amsel kannte einen bewährten Trick. Sie setzte sich auch seine Nase und trillerte ein paar Takte aus dem Mozartrequiem. Der Bär erschreckte sich zu Tode. Er wurde käsebleich und der Schluckauf war beendet. Die Amsel flog davon und der Bär ging Lachse fangen. Die Geschichte ist an dieser Stelle natürlich noch nicht vorbei, denn als der Bär nach Hause kam, gab es ein riesiges Theater. Die Polizei war mit einem grossen Aufgebot angerückt. Die Feuerwehr hatte die grosse Leiter ausgefahren. Die Sanitäterinnen tanzten Samba und die Amsel hatte sich in eine Zauberin verwandelt. Der Wolf war tot. Der Bauch aufgeschlitzt. Die Bärenkinder gesund. Steine unnötig. Der Brunnen ausgetrocknet. Die Sonne litt unter einer Makuladegenerationsstörung. Die Äpfel verhiessen eine gute Ernte. Gunther, unser Braunbär, liebt Apfelmost über alles. Emilie, die Bärenbraut mag Tintenfische. Gunther kennt einen Supermarkt, in dem er nachts die Kühltruhen plündern kann. Für Emilie würde er es auch im Pazifik mit der Angelrute versuchen. Die Bärenkinder können noch nicht schwimmen. Sie sind im nächsten Schwimmkurs angemeldet. Im August steht der Flachs hoch über dem Weizen. Der Winter wird kalt und viel Schnee ist angesagt. Die Geschichtenkiste muss daher dringend auf Vordermann gebracht werden. 

 

 

Ich mag Geschichten. Sie erinnern mich an meine Mutter. 

 

Ich mag Vulven

 

Ich mag Gummibärchen

 

Ich mag euch beide

 

Ich mag euch auch beide

 

Ich mag Schildkrötensuppe

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8. Kapitel

 

Ich mag dich. In deiner Gegenwart fühle ich mich jung, als ob ich mitten im Leben stehe. Ich möchte dich sogar umarmen und mit dir ein gutes Glas Wein trinken. Dein Lächeln verzaubert mich. Deine Nase möchte ich berühren. Du brauchst keine Angst haben. Ich werde die nötige Distanz zwischen uns wahren. Du kannst mich auch umarmen. Mir einen flüchtigen Kuss auf die Backe geben. Wir sitzen uns gegenüber, wir liegen am Strand, wir haben alle Zeit der Welt.

 

Es gibt keine Verbote zwischen uns. 

 

Bitte helft mir, dass ich mich erinnere, was ich vergessen musste, um zu überleben. Ich will nicht länger von mir getrennt sein. Ich möchte es nicht länger aushalten. Wann haben sie mich das erste Mal geholt. Bitte!

 

Heute Nacht haben sie dich geholt. Und in den vielen Nächten vorher. Sie können nicht aufhören. Armselige Gestalten. Sie lassen dich nicht in Ruhe. Doch du brauchst keine Angst haben, denn sie können dir nichts mehr anhaben. Du kannst sie wegpusten, wegbeamen, wegjagen. Sie kommen dir so nahe, weil sie wissen, dass du nach ihnen forschst. Da werden sie ganz aufgeregt, die armen Schweine. Ich habe den Joseph schnell vergessen, denn das ist die einzige Möglichkeit keinerlei Beziehung zuzulassen. Sie buhlen um dich. Fühlen sich dabei fast so unbesiegbar, wie sie als Monster in dieser Welt wirkten. Schrecklichsten Gestalten. Die Mutter hat es gewusst. Mehr noch, sie hat dich ausgeliefert. Mansfeld,  verdammte Priesterbande. Das Darknet hat von ihnen gelernt.

 

Ida, es geht mir sehr nahe. 

 

Du bist stark und wirst aushalten, was ich dir nun erzählen werde. Dskfgäöagn. Möäadgjäfn ö ökdfgm a-v avrfä mdfkdiuj an, ddmf Kaägöigrehaökgnadv.mknvdnfiorep.

 

Gefesselt, geknebelt, gegerbt.

 

Es ist vorbei. Es ist genug.

 

Wir haben beide das gleiche erlebt. Ich bin lieber gestorben. Du hast dich ins Vergessen gerettet.

 

Ida!

 

Ich schäme mich für eure Geschwister.

 

 

9. Kapitel

 

 

Euch, den noch lebenden Geschwistern will ich meine abgrundtiefe Verachtung auszudrücken.

Mich bedrängen tagtäglich Gefühle der Leere, Sinnfremde und Bewusstseinsschwere. Es hat viele Jahre gebraucht, bis ich ausdrücken konnte, welche Qualen ich  erleiden musste. Ich habe Euch als Geschwister lange und hartnäckig darum gebeten, mir in der Suche nach Aufhellung zu unterstützen. Ich empfinde Euer ignorantes Verhalten als äussert gewalttätig. 

 

Es braucht sehr viel Kraft, meinen Kindern die Verachtung, die ich Euch gegenüber empfinde, nicht zu zeigen. Sie wissen darum, wie sehr mich Euer Verhalten in der Vergangenheit geschädigt hat und sie wissen auch, dass ich Ihnen den Kontakt mit Euch nicht verunmöglichen werde. Ich unterstütze sie auch darin, die zahlreichen und kostbaren Erinnerungen an ihre Grossmutter zu bewahren.

 

Meine Verachtung, die ich Euch gegenüber empfinge, kommt tatsächlich tief aus meinem Herzen.

 

 

11. Kapitel

 

 Ida, danke, wie du mir hier in Nowa Ruda nahe bist. Ich spüre dich, doch es fällt mir schwer, dir zu schreiben. Es fehlen mir die Worte, deshalb versuche ich es umso mehr. Bin gar nicht müde, das freut mich. Komisch. Kannst du einen Gruss an Olga TOKARCZUK ausrichten? Du kennst sie sicherlich und bist ihr schon manche Male begegnet. Im „Gesang der Fledermäuse“ weint ihre Protagonistin am Laufmeter. Vielleicht sollte ich meine Rührseligkeit auch als Krankheit bezeichnen.Ist wirklich stark, was hier abgeht. Unzählige Dinge gäbe es zu erzählen. Und so viele Überraschungen. Ich werden polnisch lernen.  Das wird eine ziemliche Herausforderung mit meinem löchrigen Gedächtnis. „Niestety nie potrafiÄ™ wyrażać siÄ™ w jÄ™zyku polskim. Mam jednak cyfrowy tÅ‚umacz, dziÄ™ki któremu możemy siÄ™ porozumieć.“ Gut, dass es Übersetzungstools gibt. Du, liebe Ida, bist ein Geschenk vom Himmel. Hast du etwas von Michael gehört?

 

Hey Hey, kleiner Spinner. Ich bin sitze dir gegenüber. Mach‘ die Augen auf. Schliesse deine Muskeln und hau‘ in die Tasten. Mastermind, es geht los, denn im Sommer müssen alle Löcher geschlossen werden, damit der Herbstregen die Stimmung nicht absaufen lässt. Deine Reise mit Franziska hat mich ziemlich in Atem gehalten. Ich habe einen jahrzehntelangen Atem, den mir niemand nehmen kann. Steig‘ auf ein Pferd und sause über die Prärie und dir wird wohl um Herz. Das sagte unserer Urururgrossvater, als er in der endlosen Weite in der Manschurei die gescheckten Ziegen hütete. Die Oma hat ihn mehrmals begleitet, doch sie führte zu Hause die Geschäfte und knüpfte die nötigen internationalen Kontakte. Sie war eine Meisterin im Singen und konnte den Nachtigallen wichtige Botschaften auf ihrem Flug in den Norden mitgeben. Unsere Brüder waren leider nicht lebenstauglich und die Schwestern beschwerten sich beim Reichsmarschall über die schlechte Hygiene in den öffentlichen Schwimmbädern. Wir könnten morgen ein bisschen länger miteinander plaudern. Was hältst du davon?

 

Prima.

 

 

12. Kapitel

 

 

Er wachte früh am Morgen auf. Er wälzte sich im Bett. Er wurde sich seiner selbst bewusst. Er sass im ICE. Ein Friedhof im Vorbeirauschen. Und schon überwältigte ihn Müdigkeit. Todmüde. 

 

Die Sonne scheint, Hochsommerhitze. In der Nacht kommen die Mücken und versorgen sich mit Blutreserven.

 

Falco ist tot. Mirjam lebt munter weiter.

 

Chinesische Touristen können nicht wissen, dass ihr lautes Schmatzen Ekelgefühle erregen. Mit Schweinen und Hunde kennen sie sich aus. Sie mögen keine indigenen Deutsche. Auch die Schweiz mögen sie eigentlich nicht. Mich mögen sie verständlicherweise gar nicht.

 

Monsieur Gratewohl pflegt ein gepflegte Arabisch. Madame Friederich isst gerne Speck.

 

Um Mitternacht kommt der Nachtwächter vom nahe gelegenen Parkhaus zu einem Gutenachtkuss. Die Nachbarin hat gefragt, ob er auch mal bei ihr vorbeikommen kann. Sie spricht fliessend chinesisch.

 

Er möchte so gerne einmal eine reife Apfelsine essen. Heutzutage gibt es meistens nur noch Orangensaft im Tetrapak. Das macht keinen Spass und ist auf Dauer auch nicht gesund. Der Sanitärmonteur bekommt davon regelmässig Herpes.

 

Erzählkultur wird hochgelobt und an jeder Strassenecke gefördert. Wer eine gute Geschichte zu erzählen weiss, hat höhere Chancen in der Partnerinnenwahl. Hugo erzählt immer die gleiche Geschichte. Die von dem stierigen Chinesen, der jedes Mal nach dem Essen einen Wutanfalll bekommt. Er stellt sich auf den Esstisch und ruft nach der Bedienung. Dann nimmt er ein Messer und ritzt sich in die rechte Wange. Mit der Serviette wischt er das Blut ab. In Mannheim könnten lärmige Fussballfans sitzen. Die sind noch schlimmer. Scheiss besoffene Kerle. Die Chinesen wüssten sehr wohl, was man mit ihnen machen sollte. 

 

Marodierenden Banden verfolgen jeden Fremdling. Des Nachts fliehen die Gerechten aus ihren gestärkten Leinen. Sie haben schon lange nichts mehr gegessen. Sie haben keine Lust auf eine heisse Bouillon. Sie wollen Eis am Stil und gieren nach Austern, die sie am Morgen beim Griechen gegen ein gutes Stück Fleisch eintauschen. Die Hausangestellten haben heute frei. Die Chauffeuse ist mir dem Ferrari unterwegs und Egon will seine Geliebte in ihrem Studio besuchen, denn es gibt keine andere Chance mehr. Aus und vorbei. Verdammte dieser Erde vereinigt euch im Gewürm der Athene. Verlängerte Ferien gibt es seit vielen Jahren nicht mehr. Der Direktor ist ein Regimetreuer. Die Geschwätzigen wollen nicht an die bevorstehende Kreuzigung denken. Sie reden lieber über Schokoladeneis mit Schlagsahne. Berni wagt den ersten Spruch in der Runde. Ihm entgehen nicht die kleinsten Störungen im Geleise der Bauarbeiten. Mitunter reisst der Faden nicht ab. Näherinnen haben eine grosse Verantwortung zu tragen.

 

Ida, warum habe ich so dünne Arme? Warum kann ich dich so schnell vergessen? Warum ist so vieles nur Lärm und Rauch? Wieso geht mich das nichts an? Wo bist du, Ida? Im Eulengebirge müsste ich dich suchen. In einer Einsiedelei. In verzweifelten Schreien. In einem Wort. Buchstaben. In einem Strich. In einer weissen Leere. Im Höllengeschrei der gemarterten Bildungsschweinereien. Sie gehen ihn knapp bis zur Schulter und reichen ihm einen Kaffee mit Schnaps. 

 

Matthias, warum vergisst du deinen Bruder? Er hat nur dich. Bald hat er niemanden mehr. Lang ist der längste Morgen. Muss die schäkernde Tante ertragen. Sie lullt ihn mit Weihwasser in die Windeln. Matthias, warum bist du so streng zu dir und allen anderen? Matthias, warum hast du Angst? Du zitterst vor Angst. Michael wartet.

 

Michael, verzeih’ mir nicht. Zieh’ mich zur dir. Nein, das will ich nicht, verzeih’ mir.

 

Matthias, Kobold. Komischer. Tragischer. Blood. Schauer. Wir hatten eine gute Zeit, das vergesse ich nicht. 

 

Es geht mich nichts an, deswegen spioniere ich euch hinterher. Vielleicht sterbe ich. Bald, demnächst. Ich möchte nicht sterben. Jetzt noch nicht. Angst, die wohl immer bleibt. Sitzen auf dem Kissen. Sterben üben. Sterben. Jetzt. Nein. Nehmt mich in eure Mitte. Nein. Die Kinder. Franziska. Ein bisschen Zeit noch. Keine Angst in der Angst. 

 

 

13. Kapitel

 

 

Gut so. 

Weiter so.

Zeig‘ uns deine Tränen.

Wir lieben deine Tränen.

Ich liebe dich.

Ich liebe dich auch.

Ich mag deinen rotlackierten Mittelfingernagel.

Ich mag deinen süssen Schnäbbi

Wir haben noch einen Platz in unserer Mitte. 

Karussell fahren. 

Und ich singe eine Arie

Schön, wir freuen uns.

Ida

Michael

Ich möchte euch nicht verlieren.

Matthias

Du kannst uns nicht verlieren.

Ida

Eulengebirge

Neurode

Im Dunkeln wandern

Michael

Mit der Mutter 

Sie sind nicht weit

Leben

Sterben

Angst

Trauer

Nicht wissen wohin mit all dem Glück

Verstecken lohnt nicht.

 

Erzählen macht mich müde. Das ist kein Kinderspiel.

Schreiben ist elendig anstrengend. Nichts für zarte Fingerspiele.

Lachen geht gar nicht.

Analytisches Herangehen ist zum Kotzen.

Brechen immer wieder

Gaga

Gaga

Brummgeheule in der Waschmaschine

Beischlaf im Gartenverein

Ameisen

Bär

Honig

Gar nicht süss

Gar nicht lustig

Und jetzt?

 

Nichts machen

Lass dich überraschen

Ida ist eine gute Köchin

Michael ein Charmeur

Du wirst dich noch wundern

Wenn es Nacht wird über dem Schwarzwald

Die Sonne am Kaspischen Meer aufgeht

Der Mittagsschlaf zur Schlaraffe im Niemandsland wird

 

Sonnengelüst

Wandschrank

HinterwaldmüssigängerInnen

Verlorene Senfeier im Sesammantel

Fuchsschwanz am BMW

Regenbogenfarbe am RollsRoy

Pink an der künstlichen Brustwarze

Sauerkirsche im Abendrot

Mitternachtsgutzli im Apfelcanape

Sauermilch doppelt fermentiert

Spermaflecken auf dem Bettlaken

Natur purpurrot im blassen Fenchelgeschmack

 

Ida 

Michael

Matthias

Zu dritt fahren wir über den Hockenheimring mit dem Velo

Zwinkern dem Rennleiter zu

Treten voll die Pedalen

Winken ins Publikum

Stehen auf dem Siegerpodest

Trinken eine Brause

Laden zu einer Party ein

Tanzen zu Abba

Schwofen mit den Salzburger Schwiegersöhnen

 

Michael ist abgehauen

Er ist hinter dem Baum Pinkeln gegangen

Warum sagt er denn nichts

Es ist ihm peinlich​​

14. Kapitel

 

Eigentlich müsste man ihm voll eine in die Fresse hauen. Das sagen die Ureinwohner von Lauterbrunnen. Die Gemeindepräsidentin ist anderer Meinung. Er sollte geteert und gefedert werden. Die Pfarrerinnentochter will es bei einer Anzeige belassen. Ich kann mich nicht entscheiden. Ohne Pronomen braucht es eine Menge Übung. Esst ihn auf, verschlingt seine Genitalien, kocht eine anständige Bouillon, verkauft ihn als schmackhafte Blut- und Leberwürste, verständigt euch mit der Nachbarschaft und feiert zusammen eine Grillparty. In den sozialen Medien kursieren schon Gerüchte.

 

Michael! Ida! Wo seid ihr? Macht einen Rückwärtssalto und haltet eine gemeinsame Rede, in der ihr die verfluchte Ignoranz der ehemaligen Liebhaberinnen beklagt. Schüttelt euch vor Lachen. 

 

Das machen wir schon seit Äonen. Ferdinand ist unser Zeuge. Du kennst ihn noch gar nicht.

 

Ihr ermüdet mich.

 

Du bist erschöpft. Denkst zu wenig ans Sterben. Die Fliehkraft reisst deine Eingeweide auseinander. Du bist ein ungebildeter Zeitgenosse.

 

Nein, das stimmt.

 

Wir sehen es aus unserer Perspektive. Kennst du Lukas Bärfuss?

 

Ich mag ihn nicht. Er will mit Bildung punkten. Das kommt bei mir nicht gut an. Wenn es ihn zerreisst, mag ich ihn. Dann kommt bei mir was rüber. 

 

Was meinst du Ida, soll ich mit dem Blödsinn aufhören.

 

Ja nicht!

 

Und du Michael, was meinst du?

 

Ich sehe da eine gewisse Beeinträchtigung bei dir - eine Behinderung - eine Krankheit - eine Manie - ziemlich kaputt präsentierst du dich uns.

 

Und du Erzengel, wie kann ich mich mit dir duellieren?

 

Ich würde vorsichtig sein. Sehr sehr vorsichtig.

 

Und du Mama?

 

Du hast Mundgeruch.

 

Matthias, wir haben uns etwas überlegt. Wir werden dich ab sofort coachen. Du wirst sehen, bald wirst du der Präsident der Vereinigten Kureinwohner:innen sein.

 

Ihr seid zwei Lustige. Und schon hat es Klick gemacht und die Müdigkeit hat obsiegt. Könnt ihr mir sagen, was da läuft. Ich möchte mich sofort ins Bett legen. Nichts mehr hören und sagen müssen. 

 

Du bist reichlich überfordert. Echt heftig, was da bei dir abläuft. Michael hält es kaum noch aus. Er will dich rütteln und schütteln. Ich will dir einen lieben Kuss auf die Wange schmatzen. 

 

Wo seid ihr, Ida, Michael, ihr versteckt euch. 

 

Hörst du uns nicht?

 

Wer seid ihr, die da so dummes Zeug reden?

 

Wir sind die radelnden zwei Musketiere.

 

Ich muss mich hinlegen oder ganz laut um Hilfe schreien. Das traue ich mich nicht, deshalb lege mich jetzt ins Bett. Nur zehn Minuten. Und wenn es nicht besser wird, rufe ich die Ameisenkönigin.

 

Bleib‘ noch einen Moment. Spüre deinen Atem. Bleib‘ wach. Sprich‘ mit uns.

 

Ist es so schlimm mit mir?

 

Ja.

 

Und?

 

Wir machen uns Sorgen.

 

Ich möchte einfach nur weg. Ich will mich jetzt hinlegen.

 

Geh‘ lieber Einkaufen. Brot und Bier.

 

Ja.

 

Er ist ein Armer. Schlecht z´wäg. Was können wir tun? Nichts können wir tun. Abwarten und Tee trinken. Ich will ihm helfen. Kannst du nicht. Ich will ihm nahe sein. Bist du nicht. Wir sind unerreichbar. Wir sind ihm näher als er sich selber ist. Ja. Dann los. Nein. Wir singen ihm ein Lied. Einen Blues. Eine Hymne. Ein Mutmacherlied. Er ist ein Kämpfer. Er gibt nicht auf. Denkst du. Er ist nahe am Zusammenbrechen. Glaubst du. Jede Minute zählt. Wirklich?

 

Ida, du bist die Älteste. Michael, du bist mein Alter Ego. Bitte tut endlich etwas.

 

In the summertime, when the weather is fine. 

 

You can stretch right out and touch the sky,

 

Soll ich zu dir kommen, Ida? Ins Eulengebirge, nach Neurode?

 

Das ist lieb‘ von dir. Doch du wirst mich nicht unter der Erde finden. Ich bin dir in Leipzig näher.

 

Soll ich zur dir kommen, Michael? In Braunschweig deinen Sterbeort erkunden?

 

Ich habe in der Steiermarkstrasse gelebt, geschlafen, gesaugt, geschissen.

 

Soll ich mich nackt ausziehen?

 

Matthias, du bist unverbesserlich.

 

Soll ich Wüten?

 

Kunst

 

Weiss nicht

 

Mach‘ ein Video. Nackt. Rote Farbe auf der Brust. Auf dem Kissen. Lotossitz.

 

Ja

 

Danach darfst du in die Stadt was feines Essen gehen.

 

 

15. Kapitel

 

Ihr Beiden, wie soll ich es beschreiben? Da passiert etwas. Heute Morgen. Gleich nach dem Aufstehen bin ich noch im Pyjama  ins Atelier. Die Installationen in der Mitte haben in ihrer Aus- und Zusammenführen nicht mehr gestimmt. Richtiger Ekel aufgestiegen. Jetzt stimmt‘s. Ich mag nicht erklären. Jetzt geht es mir total dreckig. Mag nicht mehr. Brauche Hilfe. Halte mich nicht mehr aus. Halte „es“ nicht länger aus. Werde müde, will nur noch schlafen. Handlungsunfähig. Den ganzen Tag habe ich versucht, mich zu stabilisieren. Ich muss etwas machen, sonst flippe ich aus. Sonst wird die Schmerzgrenze erreicht. Temesta habe ich in Reserve und genug, um mich rauszunehmen. 

 

Betrinke dich und hänge vor der Glotze ab. Dauerserie.

 

Nein, ich bringe mich um.

 

Wir rufen die Polizei,

 

Könnt ihr gar nicht.

 

Wir können mehr, als du denkst,

 

Geh‘ ins Bordell. Mach‘ dir eine gute Stunde.

 

Und dann?

 

Bereust du deine Entscheidung. Das gehört zum Setting. Sonst funktioniert es nicht.

 

Ich bin ein verdammtes Arschloch.

 

Ja, du bist echt ein Arsch.

 

Ich 

 

Du

 

Bin ich nicht

 

Bist du nicht

 

Ich bin

 

Du bist

 

Mich gibt es nicht

 

Dich gibt es nicht

 

Wir machen heute eine Party. Mit allem Drum und Dran. Saufen, Huren, Ficken, Küssen, Schmerzen, Stöhnen

 

Ich dachte, das hab‘ ich hinter mir. Ich will nicht mehr.

 

Dich gibt es nicht.

 

Ida, wir müssen aufpassen. Gleich tickt er aus.

 

Nein, der ist völlig entspannt.

 

Und was läuft nachher?

 

Pissen, Scheissen, Heulen

 

Ihr?

 

Dich gibt es nicht. Also machen wir‘s. Um die Wette.

 

Langweilig. Und was kommt nachher?

 

Temesta und Whiskey 

 

Drei mal zwei

 

Zwei und zwei 

 

 

Morgen ist auch noch ein Tag

 

 

 

Keine Analyse oder Erklärungen jedweder Art. Das ist langweilig. Stinklangweilig.

 

Kannst du eigentlich nur so kurze Sätze schreiben. Du bist eine ganz arge Flute.

Lächerlich. Untalentiert. Unrasiert. Unmaskiert. Uniformiert. Unbeschreiblich. Gut. 

 

Ihr habt Recht. Ich weiss nichts, ich bin nichts, ich bin eine totale Null. Das ist gut so. So will ich sein. Genaus so!

 

Hey, geil, das gefällt mir. Ida hast du gehört. Er wacht langsam auf. Matthias, so gut! Es hat lange genug gedauert. Dieses Knorzen und Krampfen war nicht mehr zum Aushalten. Matthias, du hast Glück. Und die richtigen Leute gefunden. Sie breiten sich in dir aus. Du brauchst ihnen nur zu folgen. Dem Emil, der Olga, deiner Frau, mir und Michael. Das reicht. Mehr brauchst du nicht. Den Stefan solltest du nicht vergessen. Das reicht. Bald wirst du uns nicht mehr auseinanderhalten können. 

 

Ich werde keine Familiensaga schreiben. Ihr reicht.

​

 

16. Kapitel

 

​

Ida, ich bin traurig, froh und mächtig stolz. 

 

Beruhig‘ dich. Kleiner

 

Ich brauche keinen Schnuller.

 

Ich schon. Die Mutter hat mich nicht an die Brust gelassen.

 

Glaube ich nicht. 

 

Hört auf ihr Beiden. 

 

Die Tage in Nowa Ruda waren intensiv. Ich mag aber nicht erzählen. Das ermüdet zu sehr.

 

Wir wollen hören, was du erlebst hast. Wir sind ein Team, da kannst du nicht Lust und Laune kutschieren. 

 

Ich habe mich gefreut, dich durch Neurode laufen zu sehen. Unser Haus in der Kirchgasse 12.

 

Ich mag nicht erzählen. Meine Hände, die eines alten Mannes. Altersflecken. Schrumplinge Haut. Ehering links. Sitze im Zug. Kalt. Eine Gruppe junger Leute  hat sich hier im Ruhebereich gemütlich und laut eingereicht. Ein bisschen Anstand zeigen sie noch. Kein Alkohol. Fussballfans. Der Gruppeninhaber des Gruppentickets soll sich beim Zugführer im Abteil 9 melden.

 

Ich gebe dir einen Tipp. Setz‘ dich mit seinem Meditationskissen auf den Marktplatz von Nowa Ruda. Im Lotossitz. Den kleinen Buddha und die Klangschale. Rezitiere das Herzsutra. Neben der grossen Skulptur mit dem Johannes. Steh‘ auf und schrei laut auf. Wer den ersten Stein werfen will, schickst du zum Bürgermeister. Er soll ihm eine Orange vom Wochenmarkt  bringen. 

 

Dann kommst du zurück in die Kirchgasse.

 

Hört auf, mir solche Flausen in den Kopf zu setzen.

 

Lieber streife ich durch die Wälder des Eulengebirges. Eine Nachtwanderung. Ich habe Angst vor dem bösen Wolf und dem Bären Pu. Proust mit seiner mémoire involontaire, „der unwillkürlichen Erinnerung, wie sie sich in herausgehobenen Erlebnissen einstellt und uns schlagartig in eine frühere Zeit zurückversetzt.

 

Erzähl‘ mehr.

 

Euer Haus der Kirchgasse gegenüber der Nikolaikirche. Auf einer polnischen Wikipedia-Seite: Dom przy ul. KoÅ›cielnej 12 w Nowej Rudzie – zabytkowy jednokondygnacyjny budynek mieszkalny w noworudzkimcentrum, ustawiony szczytem do ulicy. Budynek pochodzÄ…cy z XVII wieku ma ciekawy portal, bryłę i sklepienia zachowane na parterze. W piwnicy budynku znajduje siÄ™ studnia, do której byÅ‚o kiedyÅ› bezpoÅ›rednie wejÅ›cie od strony ulicy, umieszczone w murze oporowym. - Hier die Übersetzung des polnischen Textes ins Deutsche:

„Das Haus in der ul. KoÅ›cielna 12 in Nowa Ruda – ein denkmalgeschütztes, eingeschossiges Wohngebäude im Zentrum von Nowa Ruda, mit dem Giebel zur Straße ausgerichtet. Das Gebäude stammt aus dem 17. Jahrhundert und besitzt ein interessantes Portal, eine charakteristische Bauform sowie im Erdgeschoss erhaltene Gewölbe. Im Keller des Hauses befindet sich ein Brunnen, zu dem es früher einen direkten Zugang von der Straßenseite gab, der in der Stützmauer untergebracht war.“  Das Treppenhaus ist in einem erbärmlichen Zustand. Die grosse Haustür noch gut erhalten. Die vordere Fassade mit Netzen abgehängt. Der Putz vom Haus schon abgeschlagen. Das Dach neu gedeckt. Im Innenbereich Schutt und Dreck. Die Wohnungen bewohnt. Am Donnerstag sah ich eine alte Frau mit einem Einkaufswagen ins Haus gehen. Ich ging ihr hinterher. In der rechten Hand trug sie einen weissen Plastikeimer. Ihre Kleider zeugten von Armut und körperlicher Vernachlässigung. Meine Urgrosseltern haben bis zum Kriegsende in dem Haus gewohnt. Sie hatten hier eine Schreinerei. Ich weiss nicht, ob sie die Übersetzung auf dem Handy verstand. Ich trug ihr den Plastikeimer in die erste Etage. Den Wagen wollte sie alleine nach oben stossen. Oben im Flur hob sie den Deckel vom Suppeneimer. Ein bräunliche Flüssigkeit auf der Fettaugen schwammen. Eine schöne Begegnung. Ich hätte sie gerne umarmen wollen. Vor ihrer Haustür ein Kinderwagen, der wohl schon viele Jahre dort steht. Sag‘ ihr einen Gruss Ida. Ich werde spätestens im Frühjahr wiederkommen. Vielleicht fällt mir etwas ein, womit ich ihr eine Freude machen kann.

 

 

17. Kapitel 

 

 

In der Manschurei gibt es kleine Schildkröten, die ihre Eier in den Nestern von Aasgeiern legen. Da werden sie ausgebrütet und liebevoll aufgezogen. Bisher hat es noch kein Kamerateam filmen können, wie die kleinen herzigen Schildkrötelein sich wohlig an die Aasgeiermutter schmiegen und kleine Juchzer machen. 

 

Übermorgen kommt eine Fee in die Schule und wird den Jungen und Mädchen Holundertee ausschenken. Dem Lehrer wird sie ein unmoralisches Angebot machen. In der Turnhalle gibt es eine Umkleidekabine für das Lehrpersonal. Da will sie sich mit ihm um Mitternacht treffen. Leider hat der Hauswart die Schlüssel versteckt. Die Fee kann nach ihrem Gutdünken freie Wünsche verteilen. Lehrer Hampel will mit ihr zum Mond fliegen. Ohne Sauerstoffmaske. Er hofft auf einen Energiekick. Seit drei Jahren lebt er von seiner Frau getrennt. Er schläft nicht gerne allein im Bett. Da fühlt er sich einsam und möchte sich am liebsten mit einer Puppe befriedigen. Das macht er aber nicht, denn er will nicht kleinlich werden. Manchmal ruft er die Telefonseelsorge an. Manchmal holt er sich ein runter. Manchmal ruft er die gute Fee an. Sie verführt ihn nach bestem Wissen und Gewissen. Am liebsten trinkt er mit ihr ein Gläschen Jasmintee. 

 

Felizitas braucht nicht länger als drei Minuten.

Henry ist das zu schnell.

Sabine stellt gerade neue Rekorde auf

Der Hausigel stinkt fürchterlich nach Küchenabfällen.

 

Dir geht es nicht gut.

 

Ging mir schon schlechter.

 

Willst du reden?

 

Lieber nicht.

 

Ida, was ist da Nowa Ruda abgegangen? Hat etwas mit mir gemacht. Finde keine Worte.

 

Ich war auch dabei. 

 

Wir hatten es gut miteinander. Ida ist ein vorzüglicher Gastgeberin. 

 

Ihr macht ein ziemliches Durcheinander. 

 

 

18. Kapitel

 

 

Gestern habe ich dein Ururururenkelin besucht. Vom Kindergarten abgeholt, gespielt, gemalt und meine Kräfte strapaziert. Anstrengend diese Präsenz. Im Nachhinein wunderschön. Kinder, die sich entfalten dürfen. Ohne permanentes Nein. Ohne Erziehen zu müssen. Nächste Woche wird sie fünf. Ihre Eltern haben sich getrennt und geben ihr Bestes.

 

Ich mag meinen Opa. Wenn wir miteinander toben.. Verkleiden, Prinzessinnenkleid. Einen Opa, der für ein paar Stunden ganz für mich da ist. Ich fordere ihn voll und ganz, bis er müde ist und nur noch gähnt. Er ist ein Künstler. Ich male gerne. Opa, ich male hier und du im anderen Zimmer. Opa ich zeig‘ dir mein Bild. Ich male nur eins. Opa kann nicht aufhören mit dem Malen. Ich mag kein heisses Essen. Nach dem Kindergarten habe ich keinen Hunger.

 

 

19.Kapitel

 

 

Paul, Vater der Mutter. 

Anna, Mutter der Mutter und Mutter des Vaters.

Franziska, Mutter eines Urgrossvaters.

Martha, Tochter der Mutter der dritten Frau eines Urgrossvaters.

 

Gestern habe ich Paul um einen Gefallen gebeten.

Heute hat Franziska den Kopf geschüttelt.

 

 

20. Kapitel

 

 

Keine Mittagssonne und kein Bittersalz. Es fing am Morgen an. Franziska war guter Laune und holte den Besen aus der Kammer. Die Spinnwebern neben dem Computer störten sie schon lange. Eine Glühbirne wollte sie ausgewechselt. Endlich ist Mittag und die Sonne scheint hell und schön. Martha hat einen Sauerbraten gemacht. Dazu serviert sie Tequila aus einer grossen Flasche. Die Kinder kommen zu spät von der Schule. Paul holt die Reitgerte. Er isst nur noch mit Stäbchen und Anna ist schon am Tisch eingeschlafen. Sie mag ihr Tischschläfchen. Sie mag eigentlich alles und jeden und vergisst nichts mehr. Ida ist mit Michael in den Ferien. Sie haben sich auf eine Insel in der Nähe von Neuseeland gebeamt. Da haben sie Ruhe und schlafen am Strand im warmen Sand. Das muss man sich mal überlegen. Die Polizei sucht in Hamburg Verbrecher und Ida liegt am Strand und die Kinder kommen gleich von der Schule und Franziska kann es kaum erwarten, endlich im Darknet nach verborgenen Geheimnissen zu forschen. Sie meint, in der letzten Zeit hätten immer wieder Unwetter dazu geführt, dass sogar die Haifischflosse von Mackie Messer unter den Hammer gekommen ist. Die blutigen Geschichten sind meist die spannendsten. Hier sollte jede Feinanalyse beginnen. Sanft, zärtlich und mit der gewissen Einfühlsgabe. Schade, dass es so schnell vorbei ist und der graue Alltag obsiegt.

 

Der Penis ist ein Kunstprodukt. Künstlich imaginiert. Schmackhaft angerichtet und mit der richtigen Würze eine Delikatesse. Penispulver eignet sich für Entschlackungskuren und hilft gegen Milzbrand. Michael erinnert sich an den tragischen Sylvesterabend. Die Mutter war unvorsichtig und gab ihm 20 Tropfen auf einmal. Eine Überdosis und er musste die ganze Nacht erbrechen. Als die Glocken das Neue Jahr einläuteten, sah er eine schwarze Katze um die Ecke laufen. Der Vater war betrunken. Die Nachbarin quietschte mit ihrem Liebhaber ein hohes F und der Sanitäter wurde rot im Gesicht, als er in die feucht fröhliche Runde schaute. In Zeiten der aufgehenden Mondsichel waren das lauter Unglückszeichen, die nur gegen Cash aus dem Weg geräumt werden konnten. Paul wischte sich den Sabber vom Schlips, denn er war beschwipst. Anna musste dringend aufs Klo und Martha holte als Überraschungsgeschenk einen nigelnagelneuen Dildo aus ihrer grossen Einkaufstasche. Wenn Michael erwachsen ist, möchte er ihn auch mal ausprobieren. Olga hat in einem ihrer Bücher von zwei habsüchtigen Schwestern geschrieben. Sie haben ihn auf eine Bahre gelegt und mehrfach vergewaltigt. Keine Ruhmestat. Gebeichtet haben sie es nicht.

 

Franziska verrät nur ihrem Liebhaber, wer sie im letzten Jahr geschwängert hat. Ein allerliebstes Kind. Rundum zufrieden. Es schreit nur, wenn Äpfel gepflückt werden müssen. Wenn sie runterfallen, werden sie faul und wurmstichig. 

 

Du kennst dich echt aus, sagt die Ente zu dem Stachelschein. So fängt das Märchen an, das Martha schon hunderte von Malen erzählt hat. Die Kinder mögen es. Die Erwachsenen auch. Die Ameisen lieben andere Literatur. Paul ist letzten Samstag zur Beichte gegangen. Er musste das Vater unser zur Strafe dreissig Mal abschreiben. Eine härtere Strafe kann es für ihn nicht geben, denn er hat eine Schreibschwäche. Vielleicht übernimmt es Anna. Sie ist im Schreiben und Rechnen die Beste in der Klasse. Der Pfaffe mag sie nicht. Sie beichtet nur langweiliges Zeug. Sie hat laut geschrien, als er ihr den Daumen durchs Fenster steckte. Es war ihm äusserst peinlich, denn was denken wohl die Leute, wenn ein kleines Mädchen, ein hübscher Junge, eine attraktive Blondine, oder ein Gigolo anfangen zu schreien. Einfach so, ohne Grund. Anna ist eine durchtriebene Göre. Martha interessiert das Gerede im Dorf nicht. Sie erzählt lieber das Märchen mit der Ente und dem Stachelschwein. Da kann sie nichts falsch machen. Martha geht verkleidet zum Beichten. Sie klebt sich einen Schnauz über die Lippe. Martha weiss, wie man‘s macht.

 

 

21. Kapitel

 

 

Neben der Mutter sitzt am Familientisch ein junger Mann, der mit den Oberarm leicht an sie gelehnt ist. Auf keinem anderen Foto taucht er sonst noch  auf. Das Foto ist aus dem Album von Angela. Schlechte Qualtität. Gestern, Ida tauchte auf. Es ist der Sohn der Mutter. Dein Halbbruder. Von einem Soldat der Roten Armee geschwängert. Sie hat ihn weggegeben als sie in Braunschweig landeten. Hatte mit ihm Kontakt bis Anfang der 60er Jahre. Auch er aus dem Familiengedächtnis getilgt. Vergessen.

 

Kurz und bündig erzählt.

 

Mutter, es muss schrecklich für dich gewesen sein. Die Vergewaltigung, die Schwangerschaft, das kleine Kind auf der Flucht im Güterwagon. In Braunschweig die Blicke derer, die euch nicht willkommen heissen wollten. Die einzige Anlaufstelle war die Kirche. Die Schwestern, brutale Viecher. Doch ohne sie hättest du es nicht geschafft. Ihnen hast du dich anvertraut. Deinen Sohn weggeben. Du wärest in den Orden eingetreten, hättest du nicht Norbert und Mansfeld kennengelernt. Oder hat Mansfeld den Kontakt mit Norbert gemacht? Ihr wart seine Spielbälle. Er hat über Tod und Leben bestimmt. Und welche Rolle hat Angela gespielt? Auch sie missbraucht von den Soldaten. Oder ist der junge Mann vielleicht ihr Sohn? Es wird immer verzwickter. Wer war der junge Mann neben dir? Warum habt ihr alles verschwiegen. Der Tod von Michael. Zu Hause, bei euch in der Wohnung sei er am plötzlichen Kindstod gestorben. Auf der Sterbekunde steht was anderes. Er ist in einer Institution in der Ludwigstrasse an Ersticken gestorben. Was habt ihr zu verschweigen.

 

Ein Theaterstück müsste ich schreiben. Auf die Bühne bringen diesen ganzen Scheiss des Vergessens.

 

Ida, warum bringst du mich auf dieses Foto? Was willst du mir damit sagen - wohin willst du mich führen? Es könnte alles ganz anders gewesen sein. Ich merke, wie ich vorsichtig geworden bin. Spreche noch nicht von einem neuen Bruder. Aber ein neues Familienmitglied! Vielleicht ein Cousin? Wer weiss. Der Vater und Mansfeld sitzen nebeneinander. Sie machen einen entspannten Eindruck. Sie haben die Szenerie im Griff. Am liebsten würde ich mich betrinken. Was ändert das? Ein Bruder, ein Cousin und überhaupt. Ist doch egal, ob da noch jemand dazukommst. Warum willst du, dass ich mich mit diesem Jungen auseinandersetze? Hilf mir bitte! Aus dem Vergessen holen. Den Bruder oder den Cousin. Oder vielleicht ein Fremder. Er ist fremd. Fremde. Ich bin mir fremd. Olga hat vom Zustand des Träumens gesprochen: Bilder zu haben, doch nicht sich selbst. Ich habe mich nicht selbst, weder im Träumen noch im Wachen. 

 

Diese ganzen Konstruktionen.

 

Michael, was sagst du dazu? 

 

mach‘ die Augen auf!

 

bullshit

Bruder

 

ja, ich bin dein Bruder

 

vielleicht auch nicht

 

du bist mein Bruder

 

ja

 

und dieser junge Mann an der Seite unserer Mutter?

 

er ist ein Fluggespenst

 

Gespenst?

 

ein Fluggast

 

ein Gast?

 

ein Gast

 

er mag unsere Mutter

 

sieht so aus

 

die Mutter sieht müde aus

 

ist sie auch

 

sie ist unglücklich

 

weiss ich nicht

 

sie möchte schreien

 

wenn keine Gäste da sind

 

der junge Mann?

 

sie weiss mit ihm nichts anzufangen

 

sehen sie sich ab und zu?

 

er ist krank

 

er wird sterben

 

er ist sehr krank

 

sie ist krank

 

Sie sind krank

 

sie träumen

 

Alpträume

 

Gespensterträume

 

Michael

 

sie hat mich geliebt

 

ja

 

den jungen Mann hat sie nicht geliebt

 

nein

 

armer junger Mann

 

arme Mutter

 

Arme Beide

 

Ida hat mich auf die Spur gebracht

 

so ist sie halt

 

warum hat sie das gemacht?

 

sie liebt dich

 

ich liebe sie auch

 

sie will dich aus dem Träumen wecken

 

sie will die wachen Stunden mit uns teilen

 

ohne Kirche

 

ohne Kirche

 

ohne die verdammten Pfaffen

 

ohne die Priesterschweine

 

ohne Jesuiten

 

ohne diese Verbrecherorganisation

 

ohne die Kinderschänder

 

ohne die Heuchler

 

ohne Vater

 

ohne Mutter

 

Ida ist schon sehr intelligent

 

da hast du recht.

 

trinken wir auf Ida

 

prost

 

 

22. Kapitel

 

 

Olga lässt ihre Protagonistin Martha sprechen: „Wenn Träume Begebenheiten aus der Vergangenheit wiederholen, wenn sie sie aufbrechen, in Bilder verwandeln, sie durch das Sieb der Bedeutungen rinnen lassen, dann kommt es mir so vor, als ob die Vergangenheit ebenso wie die Zukunft unerforschlich und unbekannt bleibt. Die Tatsache, dass ich etwas erlebt habe, heißt ja noch lange nicht, dass ich die Bedeutung einer Begebenheit begriffen habe. Deshalb fürchte ich die Vergangenheit genauso wie die Zukunft. Es könnte sich herausstellen, dass etwas, was ich für beständig und sicher halte, aus ganz anderen Gründen und auf ganz andere Weise geschehen ist, als ich bisher annahm. Dass es mich zu etwas ganz anderem geführt hat, ich aber die Richtung nicht sah, dass ich blind war oder schlief. Was fange ich mit meinem Jetzt an?“

 

Urururgrossmutter Franziska, was meinst du? Du merkst, wie es mich zerreisst. Kann nichts mit dem Jetzt anfangen. Nada. Verrückte Zeine. Fluchtphantasien. Erlösungssehnsucht. Schmerz. Dabei geht es mir gut. Seit vielen Tagen keine Aphten. Hey, das ist Wahnsinn! Ich esse gut, trinke gemässigt, geniesse die Sonne, bekomme meine Pension. Und doch geht es mir dreckig.

 

eine Geliebte wäre sicherlich mal ein guter Anfang. Nichts Grosses. Ein bisschen schön haben. Ein bisschen gegenseitiges Verwöhnen. Ein bisschen lieb sein. Was meinst du?

 

Ida, Franziska will, dass ich mir eine Geliebte suchen soll.

 

Du kannst dir auch einen Hund anschaffen.

 

Danke

 

Hör‘ zu. Ich bin deine Urururgrossmutter. Du bist aufdringlich. Glaube mir, ich habe ganz andere Sachen erlebt. Hunger, das ist wirklich ein Elend. Männer,. Kinder, die  wegsterben. Alt werden und dahinsiechen, bis sie dich endlich los sind. Mit Simon war es anders. Er stand vor der Tür. Ich bat ihn herein. Er sah mich an. Ich lächelte verlegen. Er legte mir seine Hand auf meine. Wir lagen uns in den Armen. Ich öffnet seinen Hosenschlitz. Er flüsterte mir ins Ohr. Mit seiner Zunge berührte er mein Läppchen. Ich schloss die Auge. Ewigkeit ohne Anfang und ohne Ende und ohne Weiteres. Er ging so schüchtern, wie er gekommen ist. Und jetzt lass mich in Ruhe!

 

 

 

23. Kapitel

 

 

Ein Traum, den ich erzählen möchte. Ohne Details. Als junger Erwachsener mit einer Gruppe von Leuten. Auf dem Sofa sitzt eine Frau neben mir. Sie lehnt sich an mich. Unsere Backen berühren sich leicht. Sie steht auf. Die anderen sind schon weg. Ich stehe auf, um sie zu suchen. Es ist ein Klostergebäude. Draussen merke ich, dass ich nackt bin. Keine Unterhose an. Mein Penis ganz klein, so wie ich ihn gern habe. Ich erschrecke mich trotzdem, da ich mich nicht erinnere, die Hose abgezogen zu haben. Ich laufe zurück, um sie zu suchen. Sie liegt vor dem Kircheneingang. Ich will ins Zimmer und muss durch den Gottesdienstraum gehen.  Eine Sakristanin sieht mich und fängt zu schreien an.

 

Vor dem Einschlafen die Geschichte der Kümmernis und ihres Biografen Paschalis. Dieser will  seine Niederschrift dem Bischof in Graz präsentieren. Ihm wird im bischöflichen Palais eine Zelle zugewiesen. Die Prüfung der Papiere zieht sich hin. Paschalis erkundet die Stadt. „Vom Morgen bis zum Abend wanderte er in dieser seltsamen Stadt umher, bis die Riemen seiner Sandalen ihm die Haut wund gescheuert hatten. Er sah die Händler auf dem Markt neben ihren Ständen, in denen sich alle möglichen Waren türmten. Man konnte sich kaum merken, wozu all diese Dinge dienen sollten. Er sah Kinder, die mitten auf der Straße spielten, Tiere, die vom Lärm und der Hitze erschöpft waren, und in den Kirchen bunt bemalte Statuen, die wirklichen Menschen täuschend ähnlich sahen. Aber am meisten faszinierten ihn die Frauen. Hier in der Stadt waren sie noch viel sichtbarer und spürbarer. Wenn er in der Kirche betete, erkannte er sie am Rascheln der Kleider und dem leisen Klopfen ihrer Absätze. Verstohlen betrachtete er dann jede Einzelheit ihrer Tracht, ihre Haarsträhnen und Zöpfe, die Form ihrer Schultern, die fließenden Bewegungen ihrer Hände, wenn sie das Kreuzzeichen schlugen. Wenn er sich unbeobachtet fühlte, ahmte er diese Bewegungen nach, als übte er komplizierte Zauberformeln. In einer Straße am Fluss stieß er auf ein Haus, vor dem immer junge Mädchen standen, die ihre Kleider bis über die Knie hochgeschürzt hatten. Die Bänder ihrer Hemden waren immer wie unabsichtlich gelöst und entblößten magere Dekolletés. Paschalis kam mehrere Male täglich durch diese Straße, ohne eigentlich zu wissen, wie er immer dorthin gelangte…Jemand berührte ihn am Ärmel, und Paschalis sah eines der Mädchen neben sich stehen, die sich tagsüber mit ihren roten Lippen und Wangen so deutlich von den grauen Häuserwänden abhoben. Sie sah ihm in die Augen, und langsam verzog sich ihr Mund zu einem Lächeln. Sie griff an ihr Korsett, und im nächsten Augenblick wölbten sich zwei weiße Brüste Paschalis’ Gesicht entgegen. Sie erschienen ihm makellos, genauso, wie er sie sich immer vorgestellt hatte. Das Mädchen zog ihn hinter sich her ins Innere eines der Nachbarhäuser. Sie gingen durch einen stinkenden niedrigen Flur, stiegen eine Holztreppe hinauf und gelangten in einen Raum. Es war dunkel, aber Paschalis spürte, dass es ein kleiner Raum war. »Hast du Geld?«, fragte sie und zündete eine Kerze an. Er rührte an den Geldbeutel, den er unter dem Habit trug, und die Münzen klingelten. Die Kammer war wirklich klein. An der Wand lag eine strohgefüllte Matratze auf dem Boden. Paschalis stellte seine Tasche mit den Papieren an der Tür ab, das Mädchen legte sich auf die Matratze und schlug den Rock bis zum Kinn hoch. Er sah ihre gespreizten Beine in löchrigen Strümpfen und dazwischen einen schwarzen Fleck. Er stand über den liegenden Körper gebeugt und wusste nicht, was er tun sollte. »Na, Brüderchen, worauf wartest du?«, lachte das Mädchen. »Ich möchte mich auf dich legen«, stieß er heiser hervor. Die Kehle war ihm wie zugeschnürt. »Na so was, du willst dich auf mich legen!«, rief das Mädchen in gespielter Verwunderung aus. Paschalis ging in die Knie und ließ sich behutsam auf sie sinken. So blieb er eine Zeit lang liegen und wagte kaum zu atmen. »Und was jetzt?«, fragte das Mädchen. Er nahm ihre Arme und breitete sie aus. Seine Finger berührten ihre Handflächen, die hart und rau waren. Sein Gesicht berührte ihre Haare, sie rochen nach Bratfett. Das Mädchen lag unbeweglich unter ihm, er spürte ihren gleichmäßigen Atem. »Es mag hier nicht besonders warm sein, aber du ziehst dich besser aus«, sagte sie plötzlich gelassen. Er überlegte einen Augenblick, dann stand er auf und begann sich auszuziehen. Sie schlüpfte rasch aus ihrem Kleid. Jetzt berührten sich ihre nackten Körper. Er lauschte auf ihren Atem. Ihre rauen Haare kitzelten die Haut an seinem Bauch. »Irgend etwas stimmt nicht mit dir«, flüsterte sie ihm ins Ohr und bewegte ihre Hüften in gleichmäßigem Rhythmus hin und her. Er gab keine Antwort und rührte sich nicht. Sie nahm seine Hand und führte sie langsam zwischen ihre Beine. Er suchte nach der Öffnung ins Innere des Körpers, die er sich so oft vorgestellt hatte, aber es war alles anders.“

 

 

Der Schularzt hat ihn betastet. Die Männer konnten nicht von ihm lassen. Sie sind in ihn eingedrungen. Er will gevögelt werden. Die Beine spreizen. Nein, er ist geschändet. Früh und weiss nicht mehr. Die Mutter, wie sie ihr Korsett abzieht. Er mag sie nicht schauen. Er mag überhaupt nicht hinschauen. Er liebt glatte, sanfte Haut. Seine kleinen Penis, immer noch zart und und geschmeidig. Herzig. Wenn er geschwollen, steif, hart und gierig pulsiert, fühlt es sich nur als ein Rausch an. Wenn es vorbei ist, fühlt er sich taub und erstorben. 

 

Wir müssen uns um ihn kümmern.

 

Es ist höchste Zeit.

 

Ich bin kein kleiner Junge mehr. 

 

Du brauchst nicht alles im voraus wissen. 

 

 

 

24. Kapitel

 

 

Sylvia mit ihren Kussmund verführt alle kleinen Jungs. Langsam müssen wir aufpassen, dass es nicht ausartet. In den grossen Ferien hat sie alle aus der Siedlung vernascht. Zugeben wollte sie es nicht. In der Maltherapie hat Sepp einen Apfel gemalt, beim Turnen hat sich Werni eingepinkelt, in der Morgenandacht ist Kasperle eingeschlafen, Tomasz ist nicht mehr zurückgekommen. Sie haben sich am nächsten Nachmittag auf dem Fussballplatz getroffen. Alle Mädchen, die sich die Haar blond gefärbt haben. Leider war es bitterkalt. Es schneite. Es stürmte. Eine Musikkapelle hat den Radetschkimarsch gespielt.

 

 

Ich. 

 

Nein. 

 

Du. 

 

Nein. 

 

Wir sind einander genauso fremd wie die Birne und der Eiermann.

 

 

Blaue Tomaten wachsen nur im Dunkeln.

 

 

Erdmännchen haben ein kurzes Leben.

 

 

Siebenschläfer schlafen sieben Jahre und manchmal noch länger.

 

 

Wir wollen auf die Rutsche, ruft Klaus. Du sollst nicht so unartig sein, antwortet die Puffmutter.

 

 

Sven ist systemrelevant. Er schämt sich seiner Dummheit nicht. Solche Männer brauchen wir.

 

 

Schmierst du mir ein Butterbrot, liebste Mutter? Gerne mein lieber Junge, wenn du mir deine Nase zum Nachtisch lässt. 

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